17. Oktober 2021, Gute-Nacht-Text
Das Wichtigste ist die wahre Verbindung, in Liebe und mit Wertschätzung, zwischen den Freunden. Diese führt zu Erlösung und zur Versüßung aller Urteile. Wenn die Freunde sich in Liebe und Freundschaft versammeln, werden dadurch alle Urteile aufgehoben und durch Gnade versüßt. Durch diese Verbindung wird sich vollständige Barmherzigkeit und Chassadim (Güte) der Welt offenbaren.
Maor VaShemesh, Devarim
Was für eine ungewöhnliche Formulierung: „dies führt…zur Versüßung aller Urteile“. Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Was wäre, wenn hier das Gegenteil stünde: dies führt zur Verschärfung aller Urteile. Viele Menschen in unserer Gesellschaft sind der Meinung, unsere Richter würden nicht scharf genug urteilen im Zusammenhang von Verbrechen und Gewalttaten. Richter machen sich ein Bild von einem Tathergang und kommen dann zu einem Urteil bzw. zu einer Verurteilung. Sie sind in ihrem Strafmaß an Gesetze gebunden.
Vom Gerichtssaal in unsere Straßen und Häuser: wir be-urteilen ständig andere Menschen und Situationen, in denen wir unseren Mitmenschen begegnen. Manche kommen in diesen unseren Urteilen gut weg, andere schlecht. Woran liegt das? Wir urteilen ja nicht nach Gesetzen! Wenn wir im Alltag urteilen oder sogar verurteilen, dann spielen wir uns auf als Richter – und in jedem Fall fühlen wir uns dann als die Besseren: „Wie kann der nur?“ Es scheint in unserem Egozentrum so einen moralischen subjektiven Wertespiegel zu geben, dass es sehr schnell zu Urteilen kommt. Ein Urteilen ist immer auch ein Trennen: der oder die passt mir, der oder die passt mir nicht. Unser Egozentrum fällt sogar Urteile über Menschen, die wir gar nicht kennen. Es reicht die Hautfarbe, Kleidung…
„Versüßung der Urteile“: kann es sein, dass damit gemeint ist, dass sich Urteile auflösen? Dass ich aufhöre mit Urteilen und Vor-Urteilen und Ver-Urteilen? Sie lösen sich wie Zucker im Kaffee auf?
Verbindung und Wertschätzung, Barmherzigkeit und Güte. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ -ist das Motto dieser neuen Sicht auf den Menschen – da sind die Urteile weggeschmolzen, lösen sich auf ( „Erlösung“), weil zuerst einmal der Mensch gesehen wird.
Der Kabbalist sagt: „das Wichtigste ist die wahre Verbindung“, m.a.W.: wenn wir uns verbinden, an unserem Egozentrum arbeiten mit anderen zusammen, in der Freundschaft und Gemeinschaft, verlassen wir mit dem Urteilen und Verurteilen auch das Trennen und Absondern. Und miteinander Verbinden ist Arbeiten am Netzwerk des Friedens.
Im Zusammenhang mit Urteilen hat mich schon immer der Philosoph Hans Georg Gadamer (1900-2002) beeindruckt, der an einer Methode gearbeitet hat, dass wir die Geschichte angemessener verstehen. Diese Methode nannte er Hermeneutik. Und an alle an der Geschichte Interessierten, die zu einem Urteil kommen über ein historisches Ereignis, hat er die schlichte Frage gestellt: Was ist, wenn Sie irren? Und hat damit zur Bescheidenheit angemahnt. Das gilt für alle Urteilende, für uns alle: Was ist, wenn wir irren in unserem Urteil?