Ein Teil von ihr
Der Frühling ist da und überdeckt, wenn auch nur kurz, das Gefühl der Schwere der aktuellen Krise. Da ich erstmal nicht arbeiten kann, mach ich einen kleinen Spaziergang, um ein wenig die wärmenden Strahlen der Sonne einzufangen.
Vertieft im inneren Dialog zwischen dem Wunsch, die Freizeit zu genießen und der Sorge um die Zukunft, höre ich jemanden meinen Namen rufen. Eine Bekannte der Familie kommt auf mich zu. Wir gehen ein Stück gemeinsam und sie erzählt..
In den letzten Jahren pflegte sie ihre Mutter zuhause, bis sie gezwungen war, einen Platz in einem Pflegeheim für sie zu finden. Dort besuchte sie sie zuletzt drei Mal am Tag.
Doch Besuche sind nicht mehr zugelassen, und es schmerzt sie, ihre Mutter nicht mehr in den Arm nehmen zu dürfen. Umgekehrt darf auch sie nicht mehr von ihren Kindern besucht werden. Ihr Enkelsohn weinte zuletzt am Telefon, weil er seine Oma so sehr vermisst.
Ihre große Sorge um ihre Lieben und ihre Einsamkeit rauben mir regelrecht den Atem. Doch ich kann nichts tun, außer ihr zuzuhören. Und da die Worte nur so aus ihr heraussprudeln, ist dies wohl die beste Entscheidung.
Sie ist hin- und hergerissen von Schuldgefühlen, zwischen der Unmöglichkeit, ihre Mutter zu besuchen und der gleichzeitigen Erleichterung darüber, dies nicht zu dürfen. “Ich bin so ein schrecklicher Mensch!“, haucht sie unter Tränen.
Ein kleiner für unser Auge unsichtbarer Virus lässt und innehalten und erkennen, was uns wirklich wichtig ist und wie sehr wir unsere Familie lieben und brauchen. Plötzlich schätzen wir die Mitmenschen, und nehmen sie und ihr Leid deutlich wahr. Wir erkennen uns als Teil des anderen und die eigenen Problem lösen sich angesichts der vielen noch unbeantwortbaren Fragen in Luft auf. Wir geben Kontrolle ab und müssen unser Vertrauen in fremde Hände legen. Wir fühlen bis ins Mark, wie klein und machtlos wir gegenüber der Natur sind.
Doch all das ist ein Geschenk, um aufzuwachen und eine andere Richtung einzuschlagen. Die Zeit des Wandels ist da.
Beim Heimgehen spüre ich die laue Frühlingsbrise im Gesicht und wundere mich.. Ich bin einem anderen Menschen nährgekommen; er lud mich in sein Innerstes ein, nur weil ich ihm ein offenes Ohr schenkte.
Welch ein Trost, in der Schwere einen Menschen zu treffen, dem man erzählen kann und der zuhört!
Danke ! Eine wunderschöne Erfahrung – und man darf die Kraft des Teilens nicht unterschätzen. – So ähnliche Erfahrungen mache ich gerade auch. Als mir gestern meine Schwiegermutter erzählte von einem Streit, mit ihrer Nichte, worin sie sich gar nicht wiederfand, hielt sie plötzlich inne und und fragte mich – aber eher sich selbst – laut :“ das ist doch eigentlich Erpressung, was ich da gemacht habe ? “ Man horcht plötzlich in die Zwischenräume hinein.