30. September 2021, Gute-Nacht-Text

Es gibt keinen glücklicheren Augenblick im Leben eines Menschen, als den, wenn er an seiner eigenen Kraft völlig verzweifelt. Mit anderen Worten, er hat sich bereits abgemüht. Und er hat alles getan, was nur in seiner Kraft lag, doch gibt es keine Heilung. Dann ist er fähig, zu beten. Und sein Gebet um Hilfe kommt von ganzem Herzen, weil er sicher weiß, dass seine eigene Arbeit ihm nicht helfen wird. Solange er jedoch noch eine gewisse Kraft in sich spürt, wird sein Gebet nicht vollständig sein, denn die böse Neigung eilt ihm voraus und sagt ihm: „Zuerst musst du tun, was du kannst, und dann wirst du des Schöpfers würdig sein.“

Darüber wurde gesagt: „Der Schöpfer ist erhaben und die Niedrigen werden sehen.“ Denn nachdem der Mensch sich in allen möglichen Arbeiten abgemüht hat und verzweifelt ist, erreicht er einen tatsächlich niedrigen Zustand. Das bedeutet, dass er weiß, dass er der Niedrigste von allen ist, denn  in der Struktur seines Körpers gibt es nichts nützliches. Dann ist sein Gebet vollständig, und er erlangt eine Antwort von Seiner großzügigen Hand.

 

Baal HaSulam, Brief 57.
2 Kommentare
  1. Rosemarie Bernutz
    Rosemarie Bernutz sagte:

    Vielen Dank für diesen Betrag! Ich greife nur einen Satz heraus:
    „… Ich höre nun den Kabbalisten sagen: Schau, dort ganz unten, in deiner Verzweiflung, in den Niederungen, dort erkennst du etwas: in der größten Not spürst du, dass du es alleine nicht schaffst, dass du Hilfe von einem Geber annehmen darfst. Dass du um Hilfe bitten darfst, den Schöpfer um seine Hilfe bitten darfst. Und dann der „glücklichste Augenblick“: der gebende Schöpfer sieht dich in deiner Niedrigkeit und reicht dir „Seine großzügige Hand“.
    Genau das ist die Erfahrung, die ich nach dem Tod meines Mannes gemacht habe. Und Erfahrung hat eine viel tiefer gehende Qualität (und bleibt viel länger lebendig und erinnerlich) als angelesene Weisheiten, auch wenn ich ihnen zustimme, sie für richtig befinde und im täglichen Leben umsetzen will. Erfahrung hat sehr oft auch mit körperlichen Empfindungen zu tun und ist und die sind sehr plastisch, an wohl- und wehtun kann ich mich noch nach Jahren erinnern, genau wie an große Emotionen – und im selben Moment steht die ganze Situation wieder vor mir, ich erlebe sie noch einmal, es ist wie ein Trigger.
    Ich kann das beschriebene Paradox zwar nicht erklären, nicht auflösen, aber ich kann es für mich akzeptieren und damit leben. Ich möchte gern verstehen, gelingt mir aber leider sehr oft nicht, vielleicht später einmal, wenn ich die nötige Reife dazu habe – oder noch später …

  2. Günther Paehlke
    Günther Paehlke sagte:

    Und immer wieder das Paradox: ich strenge mich an, ich bemühe mich, und es gelingt nicht. Und das soll für mich ein „glücklicher Augenblick“ sein?
    Ich nehme mir vor, einen Berg zu besteigen, und auf halbem Weg muss ich umkehren.Es gibt „keinen glücklicheren Augenblick“ als diesen, dass ich wieder nach unten muss?
    Ich will mein Leben ändern, Gutes tun für andere Menschen, engagiere mich in einem Projekt und ich spüre, es ist mir zuviel, ich ertrage nicht mehr diese ständigen Auseinandersetzungen mit den Behörden und verabschiede mich aus dem Projekt. Ich fühle mich wie ein Versager. Und jetzt bin ich der glücklichste Mensch der Welt? Das hört sich zumindest paradox an. Und das ist im Glauben nichts Anderes: ich versuche nach dem Willen des Schöpfers zu leben, aber, so der Kabbalist, es gibt „keine Heilung“. Ich zweifle an der eigenen Kraft, verzweifle am Misserfolg – da höre ich wieder die Worte: es gibt „keinen glücklicheren Augenblick“. Paradox!
    Paradox heißt- es steht gegen die Meinung bzw. Erfahrung. Unsere Erfahrung: Glücklich wer es zu etwas bringt, ganz aus eigener Kraft, glücklich wer aus eigener Kraft siegt und vorne dran ist, wer es geschafft hat, im Rampenlicht zu stehen. Er kann seinen Erfolg genießen.
    Der Kabbalist müsste jetzt paradoxerweise sagen: nun bist du der Unglücklichste. Der größte Erfolg aus eigener Kraft verschafft dir den „unglücklichsten Augenblick“.
    Ich höre nun den Kabbalisten sagen: Schau, dort ganz unten, in deiner Verzweiflung, in den Niederungen, dort erkennst du etwas: in der größten Not spürst du, dass du es alleine nicht schaffst, dass du Hilfe von einem Geber annehmen darfst. Dass du um Hilfe bitten darfst, den Schöpfer um seine Hilfe bitten darfst. Und dann der „glücklichste Augenblick“: der gebende Schöpfer sieht dich in deiner Niedrigkeit und reicht dir „Seine großzügige Hand“.
    Kann es sein, dass ich total umdenken muss? Findet hier in der Kabbala ein radikaler Richtungswechsel statt? Ein Paradigmenwechsel?
    Glücklich wer erkennt und spürt, dass er vom Schöpfer-Geber reichlich beschenkt ist und dass etwas aus der Schöpferkraft in ihn hinein und durch ihn hindurch fließt. Und dass wir Menschen dieses vielleicht erst erkennen und erleben, wenn wir ganz „unten sind“?
    Ich denke in diesem Zusammenhang an zwei Worte des Juden Jesus von Nazareth:
    Glücklich die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Reich der Himmel.
    Glücklich die Hunger und Durst haben nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.
    Ihr Hunger und Durst wird gestillt.

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