Der 9. Av aus kabbalistischer Sicht
Der Tisha beAv, der 9.Av, ist in der jüdischen Tradition der nationale Trauertag. Dem jüdischen Volk geschahen an diesem Tag, bis weit zurück in der Menschheitsgeschichte, immer wieder tragische Ereignisse. Zwei der wichtigsten sind die “Zerstörung des ersten und zweiten Tempels“.
Dazu steht geschrieben, dass Rabbi Akiva, der zu dieser Zeit lebte, mit seinen drei kabbalistischen Freunden um den zerstörten “zweiten Tempel“ trauerte (1). Plötzlich sahen sie einen Fuchs, der zwischen den Ruinen des Allerheiligsten hin und her eilte. Die drei Freunde fingen an zu weinen, doch Rabbi Akiva lachte. Seine Freunde fragten ihn, weshalb er lache. Rabbi Akiva antwortete ihnen mit einem Lächeln, dass solange sich die Prophezeiung des Exils nicht erfüllt hatte, sich auch die Prophezeiung der Erlösung nicht erfüllen konnte. Doch da nun die Prophezeiung des Exils wahr geworden sei, wird die Prophezeiung der Erlösung zweifellos auch in Erfüllung gehen.
Kabbalistische Sicht
Tisha B’Av steht für die Zerstörung des Beit HaMikdash (Tempel) und symbolisiert die tiefe Kluft zwischen den Menschen, die durch die Offenbarung des trennenden Egoismus verursacht wird. Kabbalistisch betrachtet stellt sich dabei die Frage, ob es eine Rolle spielt, dass diese Ereignisse ausgerechnet im Monat Av stattfanden. Es ist tatsächlich so, dass jedem Monat, jedem Tag eine spirituelle Wurzel zugrunde liegt. Damit sind spirituelle Kräfte, die in der physischen Welt erscheinen und sie beeinflussen gemeint. Der 9. Av wird von einer Wurzel in der Höheren, spirituellen Welt gesteuert, die einen Prozess namens Shvirat Kelim, das “Zerbrechen der Gefäße“, in Gang setzt.
Dabei darf man nicht vergessen, dass alles, worüber die historischen Ereignisse sprechen, in der Tat die inneren Gefühle des Menschen, welche nach außen projiziert werden, darstellen. Erreicht der Mensch den korrigierten Zustand, wird er alles als ein Teil von sich selbst, nicht nur erkennen und verstehen, sondern auch fühlen und wahrnehmen.
Dieser Trauertag ist kabbalistisch gesehen deshalb einer der größten Feiertage, da die Verbindung zwischen den Menschen und damit die Verbindung zur Höheren Kraft, an diesem Tag zwar unterbrochen wird, zur selben Zeit aber auch auf einer höheren Stufe wiederhergestellt wird.
„Alle Veränderungen geschehen in den Kelim (Gefäßen), in den menschlichen Sinnesorganen. Alles wird gemäß dieser Wahrnehmung gemessen und bewertet.“
Baal HaSulam, Shamati 3, Das Wesen der spirituellen Erkenntnis
Der 9. Av gilt auch als “Geburtstag des Mashiach“. Der Name “Mashiach“ stammt vom Wort “Moshe“, was hinausziehen bedeutet. Es geht hier nicht um einen Menschen, sondern um eine besondere Kraft, die zu Gmar Tikun (endgültigen Korrektur) führen wird. Wenn ein Mensch diesen Zustand, der “die Zerstörung des Tempels“ genannt wird erreicht, bedeutet es, dass er seine Verlangen, seine eigene Natur bereits völlig erfassen kann. Die Natur des Menschen ist Trennung aus Hass. Die endgültige Korrektur wird die Verbindung und Erlösung vom Bösen sein.
„Wenn verschiedene Arten auf sich allein gestellt existieren, außerhalb einer Verbindung miteinander, dann existieren auch Tod, Demütigung und Leiden. In deren Verbindung jedoch wurzelt die Korrektur und Ablösung von dem Bösen.“
Ramchal, Daat tevunot, 127
Der “dritte Tempel“
Alles, was in dieser Welt passiert, wird vom spirituellen System geleitet, das in Übereinstimmung mit unveränderlichen Naturgesetzen handelt. Nach diesem System ist in dieser Welt der Zeitraum zwischen dem 17. Tamuz und dem 9. Av eine Zeit des Kummers, was als Bein ha-mezarim, zwischen den Meeresengen, bedeutet. Heute befindet sich die Menschheit genau in der gleichen Situation wie bei der geschichtlichen “Zerstörung des Tempels“. Niemand hegt wirklich gute Gefühle für andere. Der Egoismus beherrscht den Menschen, trennt und zerstört alles, was zwischen ihm und anderen positiv sein könnte. Anstatt zu trauern, sollte der Mensch aber die Chance nutzen zu lernen, wie er sich mit anderen wie ein “Volk mit einem Herzen“, hier und jetzt vereinen kann, um dadurch das Böse in Gutes zu verwandeln.
Die Menschen müssen erkennen, dass die Quelle aller Probleme der unbegründete Hass ist. Es liegt also an jedem einzelnen Mensch, mit dem Wiederaufbau des “Tempels“, dem “dritten Tempel“, zu beginnen.
Der “dritte Tempel“ bedeutet den Zustand der Einheit und der gegenseitigen Verbindung, der Überwindung von Hass, Arroganz und Stolz; den Zustand “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Die Mensch müssen zwischen sich eine Verbindung schaffen, die ausreicht, damit die gebende Höhere Kraft, der Schöpfer, sich offenbart. Bis dahin ist diese mächtige, positive Kraft in dieser Welt noch verborgen. In dem Moment, in dem es einige Menschen schaffen, die richtigen und guten Verbindungen herzustellen, wird sich die Güte durch sie dieser Welt offenbaren. Diese Menschen werden in der Lage sein, der ganzen Welt zu zeigen, wie der “dritten Tempel“ für alle “Völker der Welt“ erbaut werden kann. So wie es geschrieben steht: „Mein Haus soll ein Haus des Gebets für alle Völker genannt werden“ (Jesaja 56:7).
Die Menschen müssen sich wünschen, dass all die tragischen Ereignisse, die der Welt widerfahren, aufhören und dass ihre Ursache erkannt und verstanden wird, damit sie beseitigt werden kann. Der Wunsch, dass die Menschheit sich über das Leid der gegenwärtigen Welt durch die Verbindungen in Liebe erheben, wird sich immer weiter ausbreiten. Möge es der Menschheit bald gelingen sich zu verbinden!
(1) Mishna, Makot-Treatise, Kapitel 24, Paragraph 72
Aus dem Artikel Thisa bav und der Bau des dritten Tempels, von Rav Michael Laitman
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