Abraham und Nimrod

Aus dem Buch „Die Geheimnisse des ewigen Buches

Kapitel 1: Eine Nation entsteht

(Die Geburt des Volkes Israel)

Bevor wir in die Bedeutung und in die Position des israelischen Volkes in der Welt eintauchen, sollten wir uns fragen, warum das israelische Volk überhaupt entstanden ist und wie dies vor sich ging. Wir wollen einen Moment lang 3000 km Richtung Osten reisen und etwa 4000 Jahre in der Zeit zurück ins alte Mesopotamien, das Herz des fruchtbaren Halbmondes, die Wiege der Zivilisation. In der Ebene zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak spielte damals die Stadt Babylon eine große Rolle und war Mittelpunkt einer blühenden Zivilisation. Es war das Handelszentrum der alten Welt.

Babylon, das Herz dieser dynamischen Zivilisation, war ein Schmelztiegel aus verschiedenen Kulturen und eine ideale Umgebung für verschiedene Glaubenssysteme und Lehren. Die Babylonier praktizierten viele Arten des Götzendienstes. Sefer HaYashar [Das Buch Jashar] beschreibt das Leben der Babylonier und ihre Religionsausübung: „Jeder im Lande machte sich damals seinen eigenen Gott – Götter aus Holz und Stein. Sie beteten sie an, und sie wurden für sie zu Göttern. Zur damaligen Zeit waren der König und alle seine Diener und Terach (Abrahams Vater) und sein gesamter Haushalt die Ersten unter den Götzendienern, welche Holz und Stein anbeteten…. Terach betete sie an und verbeugte sich vor ihnen, und so machte das seine ganze Generation. Sie haben sich vom Herrn abgewandt, der sie erschaffen hatte und es gab im ganzen Land niemand, der den Schöpfer kannte…”[1]

Und doch besaß Terachs Sohn Abraham, der damals noch unter dem Namen Abram bekannt war, eine bestimmte Charaktereigenschaft, die ihn unter den anderen hervorhob: Er hatte eine außergewöhnliche Wahrnehmung mit einem wissenschaftlichen Zugang zur Wahrheit. Abraham war ebenfalls ein verantwortungsbewusster Mensch, dem die zunehmende Unzufriedenheit der Menschen in seiner Stadt auffiel. Als er darüber nachdachte, fand er den Grund für die Unzufriedenheit im wachsenden Egoismus und in der zunehmenden Entfremdung, die immer mehr unter ihnen Fuß fassten. Innerhalb einer relativ kurzen Zeitperiode fielen sie vom Zustand der Einheit und gegenseitigen Sorge, was „Von einer Sprache und einer Rede“ (Genesis 11:1) zeugte, in Eitelkeit und Entfremdung und sie sagten, “Kommt. lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, der bis in den Himmel ragt, und lasst uns einen Namen machen” (Genesis 11:4).

Tatsächlich waren sie so beschäftigt mit ihrem Turmbau, dass sie völlig auf die anderen Menschen vergaßen, welche einst zu ihrem Stamm gehörten. Das Werk Pirkey de Rabbi Eliezer (Die Kapitel von Rabbi Elieser), einer der Midrashim (Kommentare) auf die Tora (Pentateuch), beschreibt anschaulich nicht nur die Eitelkeit der Babylonier sondern auch die Entfremdung, mit welcher sie einander begegneten. Im Buch steht, „Nimrod sagte zu seinem Volk: ‚Lasst uns eine große Stadt bauen und darin wohnen, damit wir nicht zerstreut werden wie die ersten, und lasst uns einen hohen Turm bauen, der sich bis zum Himmel erhebt … und lasst uns einen großen Namen in dem Land machen…’

Sie bauten ihn hoch…. jene, die die Mauersteine brachten, stiegen von der östlichen Seite hinauf und jene, die hinunter stiegen, taten dies auf der westlichen Seite. Wenn ein Mensch stürzte und starb, kümmerte sich keiner um ihn. Doch wenn ein Mauerstein herabfiel, saßen sie, weinten und sagten, ‘Wann wird ein anderer an seiner Stelle kommen.’”[2]

Die Einstellung von Abrahams Landsleuten beunruhigte ihn, und er ging hin und beobachtete den Fortschritt der Bauleute. Pirkey de Rabbi Elieser beschreibt weiter seine Beobachtungen dieser Feindseligkeiten: “Abraham, Sohn von Terach, ging vorbei und sah sie die Stadt und den Turm bauen. Er versuchte, mit ihnen zu sprechen und ihnen über den Schöpfer zu erzählen – die lenkende Kraft der Einheit, die er entdeckt hatte – um zu zeigen, dass alles großartig sein würde, wenn sie nur dem Gesetz der Einheit folgen würden. “Doch sie hassten seine Worte”, beschreibt das Buch. „Sie wünschten in der gleichen Sprache zu sprechen“, wie zuvor, als sie noch in einer Sprache sprachen, „Doch sie kannten die Sprache des anderen nicht. Was taten sie also? Jeder nahm sein Schwert, und sie kämpften, bis sie starben. Tatsächlich starb die halbe Welt dort durch das Schwert.”[3]

Angesichts dieser Bedrängnis beschloss Abraham, die Lehre, die er entdeckt hatte, ungeachtet der Risiken zu verbreiten. Maimonides, auch bekannt als RAMBAM, ein großer Gelehrter des 12. Jahrhunderts, beschrieb Abrahams Entschlusskraft und Anstrengung, die Wahrheiten des Lebens in seinem Buch  HaJad Ha Chasakah, (Die mächtige Hand) zu finden auch bekannt unter dem Namen von Mishneh Tora (Die Wiederholung der Tora): „Von klein auf stellte sich dieser starke Mensch Fragen. (…) er studierte Tag und Nacht und überlegte, wie sich dieses Rad (der Wirklichkeit) ohne sichtbaren Antreibenden weiterdreht. Wer treibt es an, denn es kann sich nicht selbst drehen? Und er hatte weder Lehrer noch Mentor. Er lebte mit seinen Eltern in Ur unter ungebildeten Götzendienern und Menschen, die, wie er, die Sterne anbeteten.”[4]

Bei seiner Suche entdeckte Abraham die Einheit der Wirklichkeit, diese einzigartige schöpferische Kraft, welche die gesamte Wirklichkeit zu ihrem Ziel lenkt. Mit den Worten Maimonides’: „Abraham erreichte den Weg der Wahrheit und verstand die Linie der Gerechtigkeit mit seiner eigenen korrekten Weisheit. Er zog den Schluss, dass es einen einzigen Gott geben müsse, der die Dinge lenkt, alles erschafft – und dass Er alles erschuf, und dass es in allem, was es gibt, keinen anderen Gott als nur Ihn gibt.“[5]

Um Abrahams Erkenntnisse zu verstehen, muss man Folgendes wissen: Wenn Kabbalisten von Gott sprechen, meinen sie damit kein allmächtiges Wesen, dem man dienen, gehorchen und gefallen muss, um im Gegenzug mit Gesundheit, Reichtum und einem langen Leben belohnt zu werden. Stattdessen setzen Kabbalisten Gott mit der Natur gleich – mit der gesamten Natur.

Eine interessante Erklärung bezüglich der Bedeutung des Gottbegriffes gibt Baal HaSulam. In seinem Essay Der Frieden schreibt er: „So ist es für uns besser, zu einer tieferen Gegenüberstellung überzugehen und die Meinung der Kabbalisten darüber anzunehmen, dass der Zahlenwert der Worte „Natur“ (HaTewa) und „Elokim“ (einer der Namen des Schöpfers) gleich ist. Und dann kann man die Gesetze des Schöpfers als die Gebote der Natur bezeichnen und umgekehrt, weil dies ein und dasselbe ist.“[6]

„Im Alter von 40 Jahren“, so schreibt Maimonides, „lernte Abraham seinen Erschaffer kennen“, das universelle Gesetz der Natur, das alles erschafft. Er hielt seine Entdeckungen nicht zurück: „Er verbreitete seine Erkenntnisse an die Babylonier und deutete an, dass der Weg, auf welchem sie wandelten, nicht dem Weg der Wahrheit entspreche.“[7] Leider stieß Abraham damit auf Widerstand beim Establishment, in diesem Fall Nimrod, König von Babel.

Der Midrasch Rabba, ein uralter Text aus dem 5. Jahrhundert, liefert eine bildreiche Beschreibung der Konfrontation zwischen Abraham und Nimrod, einen Blick auf Abrahams Schwierigkeiten, die sich durch seine Entdeckungen und Wahrheitsliebe ergaben. Zusätzlich bekommt man einen amüsanten Einblick in Abrahams Leidenschaft: „Terach war ein Götzendiener (der sein Leben damit bestritt, Statuen zu bauen und sie im Familienunternehmen verkaufte). Einmal musste er fort und bat Abraham, ihn im Geschäft zu vertreten. Ein Mann kam herein und wollte eine Statue kaufen. Abraham fragte ihn, ‚Wie alt bist du?’ Und der Mann antwortete ‚50 oder 60.’ Abraham sagte, ‚Wehe jenem, der 60 Jahre alt ist und eine Statue anbeten muss, die erst einen Tag alt ist.’ Der Mann schämte sich und verließ das Geschäft.

„Ein anderes Mal kam eine Frau mit einer Schale Grieß. Sie sagte ihm, ‚Hier, opfere sie vor den Statuen!’ Abraham erhob sich, nahm einen Hammer, zerbrach all die Statuen und legte den Hammer in die Hände der größten Statue. Als sein Vater kam, fragte er, wer den Schaden angerichtet hatte. Und Abraham antwortete: „Eine Frau kam und brachte ihnen eine Schale Grieß und verlangte von mir, sie den Götzen zu opfern. Ich opferte sie und eine der Götzen sagte ‚Ich möchte zuerst essen’ und die andere sagte ‚Ich möchte zuerst essen’. Die größte erhob sich, nahm den Hammer und zerbrach die anderen.“ Sein Vater sagte: „Machst du dich über mich lustig? Was wissen die schon?“ Und Abraham antwortete: „Hören deine Ohren eigentlich, was dein Mund sagt?“[8]

An diesem Punkt spürte Terach, dass er seinen aufsässigen Sohn nicht weiter disziplinieren konnte. Er übergab ihn an Nimrod, der nicht nur König von Babylon, sondern auch die Autorität über die lokalen Praktiken und Glaubensrichtungen war. Nimrod sagte zu ihm: „Bete das Feuer an.“ Abraham antwortete: „Soll ich nicht das Wasser anbeten, welches das Feuer löscht?“ Nimrod antwortete: „Bete das Wasser an!“ Abraham sagte ihm: „Dann sollte ich vielleicht die Wolke anbeten, welche das Wasser trägt?“ Nimrod sagte zu ihm: „Bete die Wolke an.“

Abraham antwortete: „In diesem Fall könnte ich vielleicht auch den Wind anbeten, welcher die Wolken vertreibt?“ Er befahl ihm: „Bete den Wind an.“ Abraham antwortete wieder: „Und sollten wir den Menschen anbeten, der den Wind erduldet?“ Er (Nimrod) sagte ihm: „Du sprichst zu viel; ich diene nur dem Feuer. Ich werde dich hineinwerfen und den Gott, den du anbetest, kommen lassen, damit er dich errettet!“

Haran, Abrahams Bruder, stand dort. Er sagte: „Ich werde in jedem Fall hier bleiben, wenn Abraham gewinnt und mit ihm übereinstimmen; und wenn Nimrod gewinnt, werde ich sagen, dass ich mit Nimrod übereinstimme.“ Da Abraham in den Schmelzofen hinunter stieg und errettet wurde, sagten sie zu ihm (Haran): „Mit wem bist du nun?“ Er sagte ihnen: „Ich bin mit Abraham.“ Sie nahmen ihn und warfen ihn in das Feuer, und er starb in Gegenwart seines Vaters. Daher wird gesagt: „Und Haran starb in Gegenwart seines Vaters Terach.“[9]

Auf diese Weise hielt Abraham Nimrod stand, wurde jedoch aus Babylon vertrieben und ging ins Land von Charan. Abraham hörte aber nicht damit auf, seine Erkenntnisse zu verbreiten, nur weil er aus Babylon ausgewiesen worden war. Maimonides’ Schriften erzählen uns darüber: „Er fing an, die ganze Welt herauszufordern, um alle darüber zu unterrichten, dass es einen Gott [ein Gesetz] für die ganze Welt gäbe… Er verkündete und wanderte von Stadt zu Stadt und von Königreich zu Königreich, bis er im Land Kanaan ankam…

Und da sich Menschen um ihn versammelten und ihn zu seinen Worten befragten, lehrte er sie alle… bis er sie zurück auf den Weg der Wahrheit gebracht hatte. Schließlich versammelten sich Zehntausende um ihn und wurden das Geschlecht des Hauses Abraham. Er pflanzte seine Lehre in ihre Herzen, schrieb darüber Bücher und lehrte seinen Sohn Isaak. Und Isaak saß und lehrte, und warnte und unterrichtete Jakob und machte ihn zu einem Lehrer, damit er sitzen und lehren möge… Und Jakob, der Patriarch, lehrte alle seine Söhne und wählte Levi unter ihnen als Oberhaupt aus, und befahl ihm, die Wege Gottes zu lehren.“[10]

Damit die Wahrheit in allen Generationen durchgeführt werden würde, befahl Jakob seinen Söhnen, „nicht damit aufzuhören, einem nach dem anderen der Söhne Levis die Verantwortung zu geben, damit das Wissen nicht vergessen würde. Dies setzte sich fort und breitete sich auch auf die Kinder Jakobs aus und auf jene, die sie begleiteten.[11]

 

[1] Sefer HaYashar [The Book of the Upright One], Portion Noah, Parasha 13 item 3.

[2] Pirkey de Rabbi Eliezer [Chapters of Rabbi Eliezer], Chapter 24

[3] ibid.

[4] Rav Moshe Ben Maimon (Maimonides), Mishneh Torah (Yad HaChazakah (The Mighty Hand)), Part 1, “The Book of Science,” Chapter 1, Item 1.

[5] Rav Moshe Ben Maimon (Maimonides), Mishneh Torah (Yad HaChazakah (The Mighty Hand), Part 1, The Book of Science, Chapter 1, Item 3

[6] Rav Yehuda Leib HaLevi Ashlag (Baal HaSulam): Der Frieden. In: Laitman, Michael (Hrsg.): Lehrbuch der Kabbala, Edition Laitman in J. KamphausenVerlag, Bielefeld 2011,  S. 249 – 266

[7] Rav Moshe Ben Maimon (Maimonides), Mishneh Torah (Yad HaChazakah (The Mighty Hand), Part 1, “The Book of Science,” Chapter 1, Item 3

[8] Midrash Rabbah, Beresheet, Portion 38, Item 13

[9] Midrash Rabbah, Beresheet, Portion 38, Item 13

[10] Rav Moshe Ben Maimon (Maimonides), Mishneh Torah (Yad HaChazakah (The Mighty Hand), Part 1, The Book of Science, Chapter 1, Item 3

[11] Rav Moshe Ben Maimon (Maimonides), Mishneh Torah (Yad HaChazakah (The Mighty Hand), Part 1, The Book of Science, Chapter 1, Item 3

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