Der Mann, der alles sah
Der Mann, der alles sah, Old Hillel (1. Jahrhundert vor der Zeitrechnung)
Er kannte die Gesetze der Realität und verstand, dass es uns leicht fällt, uns selbst zu lieben. Doch er wollte uns lehren, auch die Menschen um uns herum zu lieben. Old Hillel war jener Kabbalist, der versuchte, das Licht der Liebe neu zu entfachen und uns den Weg dahin zu zeigen.
Oren Levi
„Das, was du selbst hasst, das tu deinem Freund nicht an“ (Old Hillel).
„Zur Morgendämmerung, während sich die Kabbalisten in den Unterricht in die spirituelle Entwicklung vertieften, schien normalerweise die Wintersonne durch eine kleine Luke im Dach herein und streichelte sie mit ihrer Wärme. Doch an diesem Shabbat-Morgen blieb das Haus dunkel. Shemaiah, der Anführer der Sanhedrin, sagte zu seinem Freund Avtalion, der gleichzeitig den Vorsitz leitete: ‘Mein Bruder, jeden Tag ist das Haus hell, aber heute ist es dunkel…’“ Yoma, 35b.
Die beiden gingen vor die Tür und blickten hinauf zur Dachluke. Da lag ein regungsloser Mann. Sie stiegen auf das Dach und sahen den frierenden Mann, der von einem Haufen Schnee bedeckt war. Sie wischten den Schnee fort, holten ihn vom Dach, trockneten ihn ab und setzten ihn vor ein Feuer, um ihn zu wärmen. Als er zu sich kam, erzählte er ihnen, was passiert war.
„Mein Name ist Hillel“, sagte er. „An einem normalen Tag verdiene ich einen halben Dinar. Die Hälfte des Geldes gebe ich meiner Familie für den Unterhalt und mit der anderen Hälfte zahle ich den Eintritt zum Seminar. Gestern konnte ich keine Arbeit finden und hatte daher kein Geld, den Eintritt zu bezahlen, doch mein Herz wollte nicht zulassen, dass ich eure wertvollen Worte versäume, daher stieg ich auf das Dach und hörte zu“. Das war der Beginn von Hillels spirituellem Weg. Der Mann, der schließlich Old Hillel wurde, ist einer der größten Kabbalisten aller Zeiten.
Babylon ist wieder überall
„Wo es keine Menschen gibt, da versuche Du, ein Mensch zu sein.“ Old Hillel
Es war die Zeit des Zweiten Tempels, als König Herodes im 1. Jahrhundert vor der Zeitrechnung das Land regierte. Jene Gruppe von Kabbalisten, die anfänglich von Abraham dem Patriarchen auf Basis der Nächstenliebe gegründet wurde, war bereits lange zu einer Nation geworden. Doch nun näherten sie sich einer Krise; sie befanden sich auf dem Höhepunkt ihres spirituellen Untergangs, der sich bereits seit mehreren Jahrhunderten angekündigt hatte.
Der Wert, der immer das Zentrum dieser Nation war – die Liebe zwischen den Menschen – verfiel. Der egoistische Trieb nach Reichtum, Macht und Ehre wurde größer, die höchsten Priestertümer wurden zu politischen Ämtern und tiefer Hass zeigte sich überall.
Old Hillel, der in Babel geboren war und schließlich der Führer der Sanhedrin wurde, erkannte, dass die Sünde Babylons sich wiederholen würde. Das Ego trieb uns einmal mehr in die Trennung. Das spürte er, und ein Mann wie er konnte das nicht ruhig mit ansehen. Wie ein Vater, der einen kleinen Sohn lehrt und ihm sanft zeigt, dass es nicht weise ist, die Hand ins Feuer zu stecken, sagte Hillel: „Halte dich zwischen den Schülern von Aaron auf und übe dich darin, den Frieden zu lieben und den Frieden zu bewahren“ (Mischnah, Avot Kapitel 1).
Hin zum perfekten Zustand
„Ein Alter ist nur der, der Weisheit erreicht hat“ (Kiddushin 32b).
Old Hillel wurde alt genannt, vor allem wegen seiner göttlichen Weisheit und nicht wegen seiner 120 Lebensjahre. In dem Artikel „Liebe zu den Menschen und Liebe zu Gott“ schreibt Baal HaSulam, dass Hillel als Rabbi (Lehrer) von allen Tanaim, den Weisen der Mishna, angesehen wurde, und er die Halachah (jüdisches Gesetz) definierte.
Entsprechend der Kabbala leitet sich das Wort Halachah von dem Wort Halicha (Gehen) ab, es bedeutet also „das Gehen“ eines Menschen an den Schöpfer. Entlang des spirituellen Weges zum Schöpfer korrigiert ein Mensch 613 egoistische Wünsche, aus denen sich seine Seele zusammensetzt, und er benützt 613 spirituelle Kräfte, die auch „Lichter“ genannt werden. Diese inneren Korrekturen nennt man auch das Einhalten der 613 Mizwot (Gebote).
Halachah führt einen Menschen zu jenem perfekten Zustand, in dem sich all seine Wünsche dem Wunsch Gottes – zu lieben und jedermann Gutes zu tun – angleichen. In diesem Zustand spürt ein Mensch die unendliche Erfüllung, die der Schöpfer seiner Schöpfung geben will. Dies ist der spirituelle Grad, den Hillel erreicht hat.
Um die Halachah zu beschließen, musste Hillel das System der höheren Welten kennen, durch welche der Schöpfer alles lenkt, was in unserer Welt passiert. Die Gesetze der ganzen Realität, sowohl der spirituellen als auch der physischen, waren Hillel bekannt. Dieses System der Gesetze nennt man „Das System des Lichtes der Weisheit“ und eine Person, die es entdeckt, wird als jemand betrachtet, der Weisheit erreicht hat; daher wird in der Kabbala so ein Mensch als „alt“ bezeichnet.
Jetzt, da wir etwas mehr über die Quelle von Hillels Weisheit erfahren haben, können wir verstehen, was ihn dazu veranlasste, folgende konkrete Antwort zu geben: Eines Tages kam ein Fremder zu Hillel und sagte: „Lehre mich die ganze Tora, während ich hier auf einem Bein stehe“. Hillel antwortete unverzüglich: „Das, was du hasst, das tu deinem Freund nicht an. Das ist die ganze Tora und der Rest sind nur Interpretationen; geh und studiere“. (Shabbath 31a).
Das Licht, welches erneuert
Die Bitte, die jener Mann an Hillel gestellt hatte, war folgende: Er wollte wissen, wohin ihn die Gebote, die Korrektur seiner egoistischen Wünsche, führen würden. Entsprechend dem Kabbalisten Rabbi Baruch Ashlag basierte Hillels Antwort auf einem simplen Prinzip: Die Liebe zwischen den Menschen führt zur Liebe Gottes; der Hass zwischen den Menschen führt zum Hass Gottes.
Liebe bedeutet Verbindung und Hass bedeutet Trennung. Solange wir einander hassen, werden wir vom Schöpfer, der die Quelle aller Liebe und Freuden ist, getrennt sein, sagte Old Hillel. Er war durch und durch mit dem Wunsch des Schöpfers verbunden. Er wusste, dass wir egoistisch erschaffen waren und dass wir nicht fähig sind, einander zu lieben. Doch er wusste auch, dass die spezielle Kraft, die unsere Natur ändern kann, uns erlauben wird, letztendlich mit dem Hass aufzuhören und damit anzufangen, einander zu lieben. Das ist das Licht, welches erneuert. Dieses Licht ist in den Schriften der Kabbalisten verborgen.
Als Hillel seinen Wunsch nach Spiritualität vergrößerte und er weiter sich selbst und die Welt erforschte, wurden ihm die spirituellen Kräfte der Natur enthüllt. Es sind Kräfte, welche gegenseitige Liebe unter allen Teilen der Schöpfung erschaffen. So ein Mensch fühlt sich wie ein integraler Bestandteil der Harmonie und der Vollkommenheit, welche die gesamte Natur liebevoll umgeben. Er oder sie würde einem Freund niemals etwas Schlechtes antun und beginnt, andere wahrhaftig zu lieben.
„Das ist es, was Hillel auch uns zu lehren wünschte und darum sagte er: „Als die Tora von Israel vergessen worden war, kam Ezra aus Babel heraus und hauchte ihr neues Leben ein. Als sie wiederum in Vergessenheit geriet, kam Hillel der Babylonier und hauchte ihr Leben ein.“ (Sukah, 20a)#
Das Entstehen einer neuen Natur im Inneren
„Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Und wenn ich für mich bin, was bin ich?“ (Old Hillel).
Zu Zeiten Hillels wussten die Schüler der Tora, dass das Studium nur einem Ziel diente: sich über seine eigene egoistische Natur zu erheben und eine neue Natur in sich zu erbauen, eine Natur der Liebe und des Schenkens, ähnlich der Natur des Schöpfers. Die Weisen dieser Tage beschrieben es folgendermaßen: „Ich habe den bösen Trieb geschaffen; ich erschuf die Tora als ein Gewürz“ (Kidushin 30b).
Mit anderen Worten kann das Ego, welches den bösen Trieb in uns nährt, nur durch das Licht der Tora bezwungen werden, welches zur Liebe führt. Der spirituelle Niedergang, der einige Generationen später auftrat, und das nachfolgende Exil ließen uns diese Wahrheit für beinahe zwei Jahrtausende vergessen.
Das einzige Mittel, das uns dabei hilft, das Licht der Liebe in Israel wieder zu entfachen, ist das Studium der Kabbala. Daher schreibt Baal HaSulam: „Kabbalisten verpflichten jeden Menschen, die Weisheit der Kabbala zu studieren.“ Er erklärte unmissverständlich, dass die Erlösung von der Verbreitung des Studiums der Kabbala in den Massen abhängt. So steht es geschrieben in Baal HaSulams „Einführung zum Studium der Zehn Sefirot“
Die Weisheit der Kabbala predigt keine Moral. Sie erklärt, wie das System der liebevollen Verbindung in unseren Seelen erschaffen wurde, und ruft dadurch den Wunsch hervor, in dieses System vorzudringen. Letztendlich bringt es den Studenten dazu, dieses System zu spüren. Der spirituelle Zustand wird „Die nächste Welt“ genannt und jeder Mensch muss ihn erreichen, während er in dieser Welt lebt.
Es ist ein Empfinden der Liebe, der Vollkommenheit und Ewigkeit, und wir wurden dazu erschaffen dies zu erkennen. Das meinte auch Hillel als er sagte, dass die Liebe zwischen den Menschen das Ziel unserer Existenz in dieser Welt sei. Darauf bezog er sich auch mit dem Ausspruch: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ (Avot 1, 14).
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