Was bedeutet Jom Kippur? Das große Geheimnis der Juden (das uns unbekannt ist)

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Das Geheimnis eines Guten Jahres

Jedes Jahr um dieselbe Zeit wünschen sich die Juden ein „Schönes, neues Jahr“. Diese Hohen Feiertage symbolisieren gleichermaßen eine Zeit der Freude wie auch eine Zeit der Selbstreflexion. Heuer scheint es deutlich mehr Gründe zu solch einer Selbstreflexion zu geben als in den vergangenen Jahren.

Das letzte Jahr war für alle Juden, egal wo sie leben, besonders schwierig. Das Wiederaufleben des Antisemitismus betrachten viele mit großer Sorge. Im Lichte der Hohen Feiertage wollen wir unsere Situation beleuchten und nach Chancen suchen, die diese Herausforderung mit sich bringt.

Selbstbeobachtung

Der Krieg in Gaza forderte seinen Tribut nicht nur von den Israelis und den Palästinensern. Vielerorts legte er einen tiefen Spalt offen, der innerhalb der jüdischen Gemeinden weltweit besteht. Differenzen, die wir einst friedlich und ruhig durch Diskussionen lösten, wurden mittlerweile so angespannt und unüberwindbar, dass die Leiter der Gemeinden oftmals gar kein Gespräch mehr suchen. Sie fürchten, die negative Stimmung innerhalb der Gemeinschaft damit nur noch zu erhöhen.

Doch dieser Tiefpunkt in unserer kollektiven Existenz ist eigentlich eine Chance und die Hohen Feiertage eignen sich sehr gut für einen Blick nach innen. Es ist die richtige Zeit, über uns zu reflektieren und unsere Handlung angesichts der negativen Einstellung der Welt uns gegenüber zu erforschen.

Wir sind Jonas

Der wichtigste Teil im Jom Kippur Gottesdienstes (Tag der Vergebung) kommt nach dem Lesen des Tora-Abschnitts. Er heißt Haftara und dabei lesen wir eine Auswahl aus der Bibel (Tanach). An Jom Kippur ist das das Buch Jona. In manchen Gemeinden streiten sich die Reichen darum, die Haftara lesen zu dürfen, denn bekanntlich ist sie eine Segula (Hilfsmittel), um reich zu werden.

Jonas’ Geschichte ist deshalb besonders, denn sie handelt von einem Propheten, der zunächst versuchte, sich vor seiner Mission zu drücken – dies jedoch später bereute. Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass Jonas’ Mission nicht darin bestand, die Israeliten zu belehren oder sie vor dem Übel zu warnen, das sie ereilen würde, wenn sie sündigten. Seine Aufgabe bestand vielmehr darin, die große Stadt Ninive zu retten, deren Einwohner nicht jüdisch waren. Angesichts des aktuell wachsenden Antisemitismus ist es mehr denn je angemessen, über Jonas’ Geschichte und ihren tieferen Sinn nachzudenken.

Gott befiehlt Jonas, die Einwohner Ninives zu warnen, da sie vom rechten Weg abgekommen waren. In anderen Worten muss Jonas der Stadt und ihren Bewohnern Gottes Strafe androhen, weil sie egoistisch und einander derart fremd geworden waren, dass ihre Gesellschaft zusammenzubrechen drohte. Jonas’ Aufgabe bestand darin, die Bewohner Ninives aus ihrem Hass zurück zur Einheit und Nächstenliebe führen, andernfalls wären sie alle dem Untergang geweiht.

Jedoch versucht Jonas, vor dieser Aufgabe zu fliehen, indem er an Bord eines Schiffes geht.

Genau wie Jonas fliehen wir Juden seit 2000 Jahren vor unserer Aufgabe . Doch wir können uns diese Flucht nun nicht mehr leisten. Wir haben eine große Aufgabe. Sie wurde uns überantwortet, als Abraham uns zu einem Volk machte, dessen Fundament auf Nächstenliebe und gegenseitiger Verantwortung gründete. Damals lernten wir, dass unsere Existenz von unserer Einheit abhängt und davon, ein Vorbild für die ganze Welt zu sein. (Mehr über dieses Thema finden Sie im Artikel „Wer bist Du, Volk Israel?“, der am 20. September dieses Jahres in der New York Times veröffentlicht wurde).

Seit Jahrhunderten wiesen unsere Weisen und Führenden wiederholt darauf hin, dass unsere Einheit für unseren Wohlstand und den Wohlstand der Welt unverzichtbar ist. Sie betonten auch, dass Katastrophen und Nöte über uns und die Welt kommen würden, wenn wir in grundlosen Hass verfielen.

Doch über die Zeit verloren wir dieses Bewusstsein; wir lebten uns mehr und mehr auseinander. Schlimmer noch, Begriffe wie „ein Licht für die Völker“ oder „das auserwählte Volk“ kommen uns lächerlich vor. Wir haben keine Erinnerung daran, wofür wir auserwählt sind. Wir haben unsere Aufgabe vergessen. Aber sie wartet noch auf uns und wenn wir weiter vor ihr weglaufen, wird ein Sturm kommen.

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Der Sturm

Zurück zu Jonas’ Geschichte. Jonas’ Flucht auf ein Schiff verursachte einen gewaltigen Sturm, der die ganze Besatzung in höchste Seenot brachte. Als der Sturm seinen Höhepunkt erreichte, verließ Jonas den Tumult an Deck und legte sich schlafen. Die Seemänner jedoch kämpften weiter mit den Fluten und versuchten das Schiff zu retten. Langsam dämmerte es ihnen, dass es vielleicht jemanden unter ihnen gäbe, der diesen Sturm verursachte. Schließlich entdeckten sie, dass es Jonas war – der einzige Jude an Bord.

Die heutige Situation hat viel Ähnlichkeit mit Jonas’ Schiff. Die Welt wurde mittlerweile zu einem globalen Dorf und wir sitzen alle in einem Boot. Und die Seemänner – die Weltbevölkerung – geben dem einzigen Juden „an Bord“ (dem Volk Israel) die Schuld an der Misere.

Und wie Jonas sind auch wir eingeschlafen. Langsam erwachen wir vielleicht durch den Hass,  aber nicht durch unser Schicksal oder gar durch unsere Berufung. Doch wenn wir nicht bald aufwachen, werden uns die Matrosen über Bord werfen, genau wie Jonas.

Die Entscheidung

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In der Geschichte versuchen die Seemänner verzweifelt, die See zu beruhigen; schließlich schlägt Jonas ihnen vor, ihn über Bord zu werfen. Sowie sie das tun, beruhigt sich der Sturm. Ein Wal kommt und verschlingt Jonas. Drei Tage und drei Nächte lang verbringt Jonas im Bauch des Wals und unterzieht sich einer „Selbstüberprüfung“. Er bittet um sein Leben und beschließt, seine Aufgabe zu erfüllen.

Genau wie Jonas trägt jeder von uns etwas in sich, dass die Welt berührt. Wir, das Volk Israel, tragen die Methode der Verbindung in uns. Es ist eine Methode, die der ganzen Welt den Frieden bringt. Es ist die Wurzel, aus der unser Volk entsprang – die Wurzel der Einheit. Dieses Erbgut macht uns zu einem einzigartigen Volk und heute müssen wir die Einheit wieder aufleben lassen, denn wohin wir auch gehen, wird diese unerschlossenen Macht die Welt um uns herum destabilisieren und uns zur Verbindung zwingen.

Unsere Einheit wird den Rest der Völker inspirieren und sogar dazu antreiben, es uns gleich zu tun, genauso wie unsere Entfremdung sich momentan in der Entfremdung der ganzen Welt wiederspiegelt. Sie ist der Grund für unser Leid. Wenn wir uns verbinden, werden wir der Welt jene Energie bringen, die eine echte globale Verbindung ermöglicht, in der alle „wie ein Mensch mit einem Herzen“ leben. Es fragt sich nur noch, ob wir unsere Verantwortung übernehmen oder es vorziehen, über Bord geworfen zu werden, damit wir letztendlich erst Recht unserer Aufgabe entsprechen.

Ein Licht für die Völker

Wie oben beschrieben, bestand Jonas’ Rolle darin, den grundlosen Hass in Bruderliebe zu verwandeln. Das ist auch unsere Aufgabe. Nichts hat sich geändert – außer Namen und Datum. Und anstelle „ein Licht für die Völker“ zu sein, versuchen wir alles, uns den Völkern anzugleichen.

Doch die Welt sehnt sich nach Heilung. Und mehr und mehr Menschen und Völker ahnen unbewusst, dass die Juden nicht wie der Rest der Welt sind; dass sie irgendwie für ihr Unglück verantwortlich sind. Die Völker beginnen, uns entsprechend ihrer Wahrnehmung zu behandeln. Die Menschen reagieren instinktiv auf das, was ihnen geschieht und projizieren ihre Wut und ihre Enttäuschung auf uns. Der Tag der Vergebung ist unsere Chance, unserer Berufung gerecht zu werden. Er ist eine Möglichkeit, uns für die Einheit zu entscheiden und ein „Licht für die Völker“ zu werden. Erst dann wird sich der „globale Whirlpool“ um uns herum beruhigen und ein Dach (Sukka) des Friedens wird sich über uns alle ausbreiten.

Unter diesem Dach (Sukka) werden wir alle gemeinsam sitzen, ohne Streit und Zwist; die Einheit wird unser wichtigster Wert sein. Jetzt, da wir unsere Rolle erkennen, müssen wir die Lehre der Nächstenliebe über alles andere erheben, bis sie zu einem Laubdach wird, das uns vor Leid und Not schützt.

Wenn wir unser Leid beenden und den Antisemitismus entschärfen wollen, wenn wir das Gericht in Gnade verwandeln und ein glückliches Leben führen wollen, müssen wir uns verbinden, unsere Differenzen beilegen und ein Vorbild für die Völker werden. Nur so werden wir Frieden und Ruhe in die Welt bringen. Nun ist uns klar, warum die Menschen so viel für das Privileg bezahlen, die Jom Kippur Haftara – das Buch Jona, zu lesen.

Unsere Weisen über unsere Einheit, unsere Liebe und unsere Rolle gegenüber der Welt

Einheit und Liebe

„Der Erfolg unseres Volkes hängt einzig von der brüderlichen Liebe ab, davon, dass wir uns wie eine Familie verbinden.“

Rabbi Shmuel David Luzzatto

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist die große Regel der Tora, um Einheit und Frieden zu finden – die Essenz von Lebenskraft, Überdauern und Korrektur der ganzen Schöpfung; durch Menschen unterschiedlicher Meinungen, die sich miteinander in Liebe, Einheit und Frieden verbinden.

Rabbi Nathan Sternhertz, Likutey Halachot, “Segenssprüche für das Sehen und persönliche Segenssprüche,” Gesetz Nr. 4

„Da wir durch grundlosen Hass zu Grunde gingen – und die Welt mit uns, werden wir durch grundlose Liebe wieder erbaut – und die Welt mit uns.“

Der Raiah (Abraham Isaak Kook), Orot Kodesh, Band 3

„Jeder Aufruhr in der Welt kommt nur für Israel. Jetzt sind wir aufgefordert, freiwillig und achtsam eine große Aufgabe zu übernehmen: Uns und die gesamte zerstörte Welt wieder zu erbauen.“

Der Raiah (Abraham Isaak Kook), Igrot (Briefe), Brief 726

„Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst. Alles, was du von anderen erwartest, tue für deine Brüder.“

Maimonides, Mischne Tora, Schoftim, „Regeln der Trauer“, Kapitel 14

„Wann ist der Schöpfer mit Seiner Schöpfung zufrieden? Wenn das ganze Volk Israel zusammen ist, ohne Neid, Hass oder Wettbewerb; und jeder denkt an das Wohlergehen seines Freundes. Genau dann ist der Schöpfer mit Seiner Schöpfung zufrieden.“

Das Buch, Erinnerung an Miriam, Kapitel 11

„Wenn alle Menschen zustimmen, ihr Verlangen, für sich selbst zu empfangen, aufzugeben, und wenn sie keinen anderen Wunsch haben, als ihren Freunden zu geben, wird alles Übel auf der Welt aufhören zu existieren. Und wir werden eines gesunden und vollkommenen Lebens würdig.“

Rav Yehuda Ashlag (Baal HaSulam), Einführung in das Buch Sohar, Punkt 19

Die Rolle Israels

„Das Volk Israel muss das erste Volk sein, das einen internationalen Altruismus vorlebt und auf diese Weise zeigt, welch Gutes und Schönes einer solchen Herrschaft innewohnt.“

Rav Yehuda Ashlag (Baal HaSulam), „Die Schriften der Letzten Generation“

„Das Volk Israel, das mehr als jedes andere Volk in der Lage ist, sich dem Schöpfer zu nähern, wird dann dem Rest der Welt die ganze Fülle überbringen.“

Rav Baruch Ashlag (der Rabash), Die Schriften des Rabash, Band 2, Brief Nr. 18

„Das israelische Volk wurde als eine Art Tor erschaffen, durch welches die Funken des Lichts auf die Menschen der ganzen Welt scheinen werden.“

Rav Yehuda Ashlag (Baal HaSulam), „Arvut“ (Die Bürgschaft)

„Deshalb steht geschrieben, dass jeder Einzelne aus den Völkern einen jüdischen Mann nehmen und diesen ins Heilige Land führen wird. Und es reicht nicht aus, dass sie von selbst gehen können. Man muss verstehen, wodurch die Völker der Welt zu so einer Kenntnis und so einem Willen gelangen sollen. Wisse, dass das durch die Verbreitung der wahren Weisheit geschieht, damit sie deutlich den wahren Gott und das wahre Gesetz sehen.
Und die Verbreitung der Weisheit unter den Massen wird „Horn” genannt. Wie das Horn, dessen Ton eine große Distanz zurücklegt, wird sich das Echo der Weisheit über die ganze Welt verbreiten, sodass sogar die Völker hören und erkennen werden, dass Israel die Weisheit Gottes innehat.“

Rav Yehuda Ashlag (Baal HaSulam), „Das Horn des Messias“

„Und so hängt es vom israelitischen Volk ab, durch das Befolgen der Tora und der Mizwot liShma [in der Absicht zu geben], sich und alle Menschen in der Welt zu befähigen, sich so zu entwickeln, dass sie die erhabene Arbeit, den Mitmenschen zu lieben, auf sich nehmen. Diese Arbeit ist die Leiter, um das Ziel der Schöpfung, Dwekut (Verschmelzung) mit Ihm, zu erreichen.“

Rav Yehuda Ashlag (Baal HaSulam), „Arvut“ (Die Bürgschaft)

„Der Aufbau der Welt, die gerade durch das schreckliche Wüten eines blutigen Schwertes zusammenbrach, bedarf der Errichtung einer Jüdischen Nation. Der Aufbau der Nation und die Offenbarung von deren Geist sind ein und dasselbe, und sie sind eins mit dem Aufbau der Welt, die in Erwartung einer Kraft voller Einheit und Erhabenheit zusammenfällt, und all dies ist die Seele der Versammlung Israels. Der Geist des Herrn ist damit erfüllt und der Geist desjenigen, dessen Seele darin schlägt, kann in diesen Zeiten nicht ruhig verweilen, ohne an all die Kräfte des Volkes zu appellieren: ‚Wacht auf und erfüllt eure Pflicht!’“

Der Raiah (Abraham Isaak Kook), „Orot“ (Lichter), Kapitel 9, p 16
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