Studenten schreiben

Angst

von Günther

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Kindern fällt es nicht schwer, eine Geschichte auf die Frage: “Wann hattest du einmal so richtig Angst?” zu erzählen. Als Erwachsene tun wir uns schwerer, von unseren Ängsten zu reden. Und doch wissen wir: die Angst begleitet uns ständig im Leben. Wir haben Angst vor Veränderungen, Angst vor Krieg und Zerstörung, vor Krankheit und Tod. Wenn wir an unsere Grenzen stoßen, breitet sich dieses lähmende Gefühl aus. Wir spüren, wie es eng wird in uns, wie der Mund austrocknet, der Atem rast – kein Wunder sind Angst und Enge sprachverwandte Worte.

Eine überraschende Entdeckung in der Wissenschaft der Kabbala

Es überraschte mich, dass die großen Kabbalisten Yehuda Ashlag, bekannt als Baal HaSulam und sein Sohn Baruch Ashlag (RABASH) in ihren Schriften und Abhandlungen sich nicht mit der Angst beschäftigen – es scheint, dass Menschen, die sich für den Weg der Spiritualität entscheiden, die Angst hinter sich lassen. Warum ist das so?

Die Kabbala ist zu verstehen als eine umfassende Wissenschaft, die nicht in die Welt der Einzelwissenschaften passt, weil sie das Ganze im Blick hat: die Welt, den Menschen, die Natur, den Ursprung, den Sinn des Lebens. Ziel ist es, uns Menschen mit deren Methode zu verbinden, und nicht nur uns, sondern uns Menschen mit der Ur-Geber-Kraft. Die Kabbalisten haben ein Naturgesetz erfasst: das Gesetz des “Gebens”. Die Natur, der Schöpfer, die Urkraft – dies alles ist zu verstehen als ein System des Gebens, der Liebe. M.a.W. es ist ein Kommunikationssystem, in dem der Grundsatz gilt: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”. Wenn es das Wesen der Urkraft, des Schöpfers, ist zu geben, um Genuss zu bereiten, dann ist das Gegenüber das Geschöpf, das diesen Genuss empfängt. Dieses Verlangen zu empfangen ist unserer menschlichen Natur eingeschrieben als unser Ego – und das ist unser Dilemma. Als Ego-Wesen, die wir sind, vergessen wir die Quelle des Lebens. Wir halten uns nicht an das Naturgesetz “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”, statt zu verbinden, trennen wir, spalten, führen Kriege, tun der Natur Gewalt an.

An diesem Ego etwas zu verändern, damit sich etwas in der Welt verändert, das führt Menschen in die Spiritualität. Die spirituelle Arbeit ist nur möglich als Arbeit in einer Gruppe mit Freunden, die die gleiche Absicht haben: an sich zu arbeiten, um das egoistische Verlangen, für sich selbst zu empfangen, zu korrigieren. Dadurch gelangen wir aus der Passivität in aktives Handeln.

Und das ist die zweite Überraschung: für Freunde und Freundinnen der Kabbala, die sich auf diesen Transformationsprozess eingelassen haben, vom Empfangen zum Geben, ist Angst kein Thema, die Angst verliert ihre Wirkung. Dankbar das Leben empfangen, weitergeben, teilen, sich verbinden, aus der Urkraft leben, das stärkt, und jeder lernt dabei, auch Niederlagen als Chance zu sehen, an sich zu arbeiten, sich zu verändern. So kann selbst das Gefühl Angst auch ein positives Signal sein, dass etwas nicht stimmt. Kabbalisten sehen das Angst-Signal als einen Wink des Schöpfers: ihn zu suchen in der Dunkelheit und Enge der Angst, seine Kraft zu spüren für einen neuen Weg.

Eine weitere Überraschung

Die erfahrene und wissenschaftlich ausgewiesene Psychologin Verena Kast weist im Zusammenhang mit Angst darauf hin,  was Angst grundsätzlich mit uns macht: „Angst erleben wir dann, wenn wir uns bedroht fühlen oder ein bedrohliches Ereignis erwarten, uns zugleich aber dieser Situation hilflos ausgeliefert fühlen“, und „Angst setzt dann ein, wenn etwas, das uns persönlich als sehr wertvoll erscheint, in Gefahr ist“ ( Kast, S.82/91). Da ist zumindest angedeutet, dass bei vielen Menschen das unangenehme Gefühl von Angst aufkommt, wenn Veränderungen anstehen, wenn das, was einem wertvoll ist, nicht mehr in der gewohnten Weise zur Verfügung steht.  Angst scheint damit auch  eine Sorge zu sein, etwas zu verlieren. Angst vor Verlust, Angst zu verlieren, Angst auch Freunde zu verlieren und verlassen zu werden-Psychologen sehen darin so etwas wie eine Urform der Angst. Wahr ist also: Angst verhindert Veränderungen.

Auch müssen wir damit leben, dass wir uns selbst fremd sind, Anteile in uns haben, die wir ablehnen, dunkle Seiten, die wir nicht wahrnehmen wollen – dass wir z.B. vielleicht gar nicht so gut sind, wie wir es anderen vormachen. Das Problem dabei ist, dass das, was wir in uns nicht wahrhaben wollen, was uns unsicher macht und Angst bereitet, auf andere projizieren. Dadurch qualifizieren wir andere ab, grenzen und sondern sie aus. Genau dieses Verhalten wird dann zum Zündstoff für Fremdenfeindlichkeit – den Fremden und alles Fremde abzuwehren, weil das eigene Fremde in der Persönlichkeit verunsichert und ängstigt. Am besten, so fühlt der Angst-Mensch, bleibt alles so, wie es ist, keine Veränderung, keine Fremden.

Die Psychologin Verena Kast überrascht mit einem positiven Gedanken zur Angst: Wenn wir es gelernt hätten, Angst als etwas Sinnvolles anzusehen, dann könnten wir besser mit den Problemen umgehen, die uns Angst machen: eine neue Sicht gewinnen und Mut, etwas zu verändern. Das Gefühl Angst kann dann eine Chance sein, Dinge zu verändern in der Kommunikation mit anderen, die notwendig sind, damit wir als Menschen würdig miteinander umgehen.

Überraschungen zum Schluss

Was unsere menschliche Angst angeht, berührt die Psychologie an diesem Punkt die Wissenschaft der Kabbala: die Angst kann als eine Chance angesehen werden, etwas in sich zu verändern, sich zu öffnen, hin zu Verbindung und Liebe. Die Angst-Anteile bzw. Ego-Anteile des menschlichen Herzens wahrzunehmen, daran zu arbeiten, sie zu verwandeln und fruchtbar zu machen für ein gutes Miteinander. Studiert man Kabbala, gibt es immer wieder solche Überraschungen…

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Literatur: Dr. Kast, Verena, Wi(e) der Angst und Hass, Stuttgart 2017

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