Matan Tora (Gabe der Tora)
Von Rav Yehuda Ashlag
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Levitikus 19:18)
Rabbi Akiva sagt: „Dies ist ein großes Gesetz [1] in der Tora.“
Das von den Weisen Gesagte verlangt nach einer Aufklärung, da das Wort Klal (Gesamtheit/Gesetz/Grundsatz) auf eine Summe von Einzelheiten deutet, die alle zusammen diese oben genannte Gesamtheit bilden.
1) Wenn er somit vom Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ spricht, welches das Hauptgesetz der Tora ist, müssen wir verstehen, dass die übrigen 612 Gebote der Tora mit allen ihren Komponenten nicht mehr und nicht weniger als eine Summe von Einzelheiten sind, die dieses eine Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ zusammenstellen und durch dieses bedingt sind.
Dies kann in Bezug auf die Gebote zwischen dem Menschen und seiner Umgebung gerechtfertigt sein, doch wie kann dieses eine Gebot alle Gebote enthalten und in sich einschließen, welche die Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Schöpfer regeln und welche in der Tora primär sind und deren Wesen und Sinn bestimmen?
2) Und wenn man noch eine Anstrengung unternehmen und auf irgendeine Weise das Gesagte verstehen kann, dann steht für uns bereits ein anderer, noch prägnanterer Ausspruch bereit – über einen Übertretenden, der zum Weisen Hillel (Traktat Shabbat 31) mit einer Bitte kam: „Lehre mich die ganze Tora, während ich auf einem Fuß stehe.“ Und es antwortete ihm Hillel: „Was dir verhasst ist, tue deinem Nächsten nicht an. (Liebe deinen Nächsten wie dich selbst). Und der Rest sind nur Erklärungen, gehe und lerne!“ Auf diese Weise liegt vor uns ein klares Gesetz, dem zufolge keines der 612 Gebote der Tora diesem einen – „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – vorzuziehen ist. Denn sie sind nur zu dessen Erläuterung bestimmt, um es uns zu erlauben, uns auf das Ausführen des Gebotes „Liebe deinen Nächsten…“ vorzubereiten, da er klar sagt: „Und der Rest sind nur Erklärungen, gehe und lerne“, das heißt, alle übrigen Gebote in der Tora sind lediglich Kommentare über dieses eine Gesetz, ohne welche allerdings dessen Ausführung in vollem Umfang nicht möglich ist.
3) Und bevor wir uns in den Gegenstand vertiefen, müssen wir aufmerksam in das Wesen dieses Gebotes schauen. Denn es ist uns aufgetragen, „den Nächsten wie uns selbst zu lieben“, und der Ausdruck „wie sich selbst“ zeugt davon, dass man seinen Nächsten im gleichen Maße lieben soll, wie man sich selbst liebt – und keinesfalls weniger. Das bedeutet, dass du stets die Bedürfnisse eines jeden Menschen aus dem Volk Israel bewachen und befriedigen sollst, nicht weniger als deine eigenen Bedürfnisse. Das ist doch aber unmöglich, denn nur wenige können sich nach Ende des langen Arbeitstages in ausreichendem Maße um die eigenen Bedürfnisse kümmern; wie kann man da einem also die Verpflichtung auferlegen, für ein ganzes Volk zu arbeiten und dessen Bedürfnisse zu befriedigen? Doch es ist unmöglich, dass die Tora übertreibt. Denn sie selbst warnt uns vor: „Du sollst nicht hinzufügen und nicht wegnehmen“ – was aussagt, dass die Gesetze mit absoluter Genauigkeit festgesetzt wurden.
4) Und wenn dir das noch nicht genügt, so kann ich ergänzen, dass die Forderung dieses Gesetzes der Nächstenliebe noch härter ist, da es von uns verlangt, die Bedürfnisse des Anderen den eigenen Bedürfnissen vorzuziehen, wie es im Jerusalemer Talmud heißt (Traktat Kidushin, 21:1): „Damit es ihm bei dir gut geht“ (Deuteronomium 15:16).
Die Rede ist von einem Israeliten, der sich in Sklaverei bei einem anderen Israeliten befindet. Es steht geschrieben: „Wenn der Herr nur ein Kissen hat und er auf diesem liegt und es nicht an seinen Sklaven gibt, dann erfüllt er nicht die Anweisung „Damit es ihm bei dir gut geht“, denn er liegt auf dem Kissen und der Sklave auf der Erde. Und wenn er nicht darauf liegt, das Kissen aber auch nicht seinem Sklaven gibt, dann ist das eine Sünde von Sodom. Folglich muss er gegen seinen Willen das Kissen seinem Sklaven geben und selbst auf dem Boden liegen“.
Folglich gehört auch dieses Gesetz in den Rahmen der Nächstenliebe, denn in ihm wird ebenfalls die Erfüllung der Bedürfnisse eines Anderen der Erfüllung der eigenen Bedürfnisse gleichgestellt, wie im Beispiel mit dem jüdischen Sklaven: „Damit es ihm bei dir gut geht“. So auch in dem Fall, wenn er nur einen Stuhl besitzt und sein Freund keinen hat: Gemäß dem Gesagten verstößt er gegen das positive Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, wenn er selbst darauf sitzt und ihn nicht dem Anderen gibt, da er sich nicht um die Bedürfnisse des Nächsten wie um die eigenen sorgt.
Und wenn er selbst nicht auf dem Stuhl sitzt und ihn nicht dem anderen gibt, dann gleicht das der Sünde von Sodom. Denn das Gebot verpflichtet dazu, den Stuhl dem Anderen zu geben und selbst auf der Erde zu sitzen oder zu stehen. Klar, dass dieses Gesetz von allen möglichen Bedürfnissen des Anderen spricht, die du in der Lage bist zu erfüllen. Und nun gehe und lerne! Ist es aber möglich, dieses Gebot zu erfüllen?
5) Zuallererst müssen wir nachvollziehen, warum die Tora nur dem Volke Israel gegeben wurde und nicht der ganzen Welt im gleichen Maße. Gibt es hier irgendeine nationale Bevorzugung? Es ist klar, dass nur ein Geistesgestörter so denken kann. In Wirklichkeit beantworteten die Weisen diese Frage bereits, indem sie sagten, dass der Schöpfer die Tora allen Völkern und in allen Sprachen anbot, diese sie jedoch nicht annahmen.
Und dennoch, warum wurde das Volk Israel als das „auserwählte Volk“ bezeichnet, wie es geschrieben steht: „Dich erwählte der Schöpfer“, nachdem keines der Völker die Tora wollte? Kann man sich etwa den Schöpfer vorstellen, wie Er mit Seiner Tora zu allen anderen Völkern geht und versucht, ihnen das auszuhändigen, wovon sie nicht die geringste Vorstellung haben? Aber auch, wird etwa in der Geschichte der Völker solch ein Ereignis erwähnt, und wie kann man sich mit solch einer „kindischen“ Deutung zufriedengeben?
6) Doch sobald wir die Essenz der Tora und der Gebote, die uns gegeben wurden, völlig verstehen, und auch deren erwünschte Absicht, sowie uns die Weisen lehrten, werden wir auch den Sinn der Schöpfung, die vor uns liegt, völlig verstehen. Denn das erste Konzept besagt, dass es keine Handlung ohne Ziel gibt. Und zu dieser Regel gibt es keine Ausnahmen, außer den Niedrigsten des Menschengeschlechts und den Kleinkindern.
Daher besteht keinerlei Zweifel daran, dass der Schöpfer, dessen Größe unergründbar ist, weder Kleines noch Großes zwecklos vollbringen würde. Und die Weisen verwiesen uns darauf, dass die Welt zu nichts anderem erschaffen wurde als nur zur Einhaltung der Tora und der Gebote. Wie uns die Ersten (Rishonim) erklärten, besteht der Kern davon darin, dass die Absicht des Schöpfers in Bezug auf das Geschöpf seit dem Moment von dessen Erschaffung darin besteht, ihm Seine Göttlichkeit zu offenbaren. Und die Erkenntnis der Göttlichkeit des Schöpfers offenbart sich im Geschöpf in Form der Empfindung des Genusses, die ständig ansteigt, bis sie das erwünschte Maß erreicht.
Dadurch erheben sich die Niederen in wahrem Bewusstsein Seiner Erkenntnis und der Verschmelzung mit Ihm, bis sie schließlich die endgültige Vollkommenheit erreichen: „Niemand wird einen anderen Schöpfer sehen außer Dir.“ Und aufgrund der Größe und der Pracht dieser Vollkommenheit hüteten sich die Tora und die Propheten, kein einziges Wort davon zu sprechen. Wie es die Weisen andeuteten: „Alle Propheten sprachen nur von der Zeit des Messias, doch in Zukunft wird niemand einen anderen Schöpfer sehen außer Dir.“ Demjenigen, der über Wissen verfügt, ist das bekannt, und man kann nichts mehr hinzufügen.
Und diese Vollkommenheit wird in den Aussprüchen der Tora, der Prophetie und den Aussprüchen der Weisen einzig und allein durch das einfache Wort Dwekut (Anhaftung, Verschmelzung) ausgedrückt. Doch durch die oftmalige Verwendung dieses Wortes durch die Massen verlor es fast gänzlich seine ursprüngliche Bedeutung. Doch wenn du für einen Augenblick in den Sinn dieses Wortes eindringst, dann wirst du vor Ehrfurcht über die Größe des Wunders erstarren. Stelle dir die Größe des Göttlichen und die Niedertracht des Geschöpfes vor, und dann wirst du einschätzen können, was deren Verschmelzung darstellt. Und dann wirst du begreifen, warum wir durch dieses eine Wort das Ziel dieser ganzen grandiosen Schöpfung zum Ausdruck bringen.
Folglich besteht das Ziel der ganzen Schöpfung darin, dass die niederen Geschöpfe, indem sie sich durch Erfüllung von Tora und Geboten allmählich entwickeln, immer höher steigen können, bis sie schließlich würdig werden, mit ihrem Schöpfer zu verschmelzen.
7) Doch hier machten die Weisen der Tora halt und stellten die Frage: „Warum wurden wir nicht von Beginn an in der ganzen erwünschten Erhabenheit erschaffen, um mit dem Schöpfer verschmelzen zu können? Warum musste er uns diese Last der Schöpfung, der Tora und der Gebote aufbürden?“ Und sie antworteten darauf: „Bitter ist das Brot der Scham.“ Das bedeutet, dass derjenige, der isst und die Früchte der harten Arbeit eines Anderen genießt, sich davor fürchtet, diesem ins Gesicht zu schauen, da es ihn beschämt; und derjenige, der diesen Weg beschreitet, verliert allmählich jegliche Menschengestalt.
Und es ist unmöglich, dass in dem, was Seiner Vollkommenheit entspringen würde, irgendein Mangel enthalten wäre, und daher stellte Er uns die Möglichkeit zur Verfügung, selbst die Erhabenheit durch unser Studium der Tora und der Gebote zu verdienen. In diesen Worten birgt sich ein tiefer Sinn. Ich erklärte bereits das Wesen dieser Dinge in den Büchern „Panim Meirot“ (zum Baum des Lebens) und in Talmud Esser Sefirot, Kapitel 1, Histaklut Pnimit. Daher werde ich es hier kurz erklären, damit es jeder verstehen kann.
8) Das gleicht Folgendem: Einmal führte ein reicher Mann einen Menschen vom Markt zu sich, nährte ihn, tränkte ihn, schenkte ihm jeden Tag Gold und Silber und vermehrte seine Geschenke jeden Tag. Schließlich fragte der Reiche: „Sage mir, habe ich bereits alle deine Wünsche erfüllt?“ Und es antwortete ihm der Arme: „Noch sind nicht alle meine Wünsche in Erfüllung gegangen. Denn wie gut und angenehm wäre mir, wenn dieses ganze Eigentum und diese ganze Pracht von mir verdient worden wären, genauso, wie sie es von dir sind, und ich nicht mehr einer wäre, der Almosen aus deinen Händen bekommt.“ Und es sagte ihm der Reiche: „Wenn dem so ist, dann wurde noch kein Mensch erschaffen, der deine Bedürfnisse befriedigen könnte.“
Dieser Zustand ist natürlich, weil der Arme einerseits einen riesigen Genuss verspürt, der ständig im Maße der Vermehrung der Geschenke, die er bekommt, wächst; und es ihm andererseits schwerfällt, Scham wegen solch einer Menge an Gutem zu erdulden, welches der Reiche ihm gibt und es auch noch von Mal zu Mal vermehrt. Das ist ein Gesetz, welches für unsere Welt natürlich ist, wenn der Empfänger etwas empfindet, was der Scham und der Ungeduld im Moment des Empfangens eines kostbaren Geschenks gleicht.
Und daraus folgt das zweite Gesetz: Es wird sich in der ganzen Welt kein Mensch finden, der vollständig alle Wünsche eines Anderen erfüllen könnte, da er es trotz allem nicht schaffen wird, diesem Geschenk den Charakter eines selbstständig Erworbenen beizugeben, was eben allein die Perfektion vollenden kann.
Doch das Gesagte bezieht sich nur auf die Geschöpfe und keineswegs auf die erhabene Vollkommenheit des Schöpfers. Und das ist es, was Er uns als Folge von Anstrengungen und vieler Arbeit bereitete, dank des Studiums der Tora und der Ausführung von Geboten – unsere Erhabenheit selbst zu kreieren. Dann werden das ganze Heil und der ganze Genuss, die von Ihm zu uns gelangen, das heißt alles, was im Begriff „Verschmelzung mit dem Schöpfer“ eingeschlossen ist, unser eigenständiger Erwerb sein, der uns nur dank unseres eigenen Bemühens zugutekam. Erst dann werden wir uns wie Herren fühlen können, und nur so und nicht anders werden wir die Vollkommenheit verspüren.
9) Hier sollten wir uns jedoch das Wesen und den Ursprung dieses Naturgesetzes genau vor Augen führen. Woher stammt die Scham und Ungeduld, die wir verspüren, wenn wir von jemandem aus Barmherzigkeit erhalten? Diese Erscheinung entspringt einem Naturgesetz, welches den Naturforschern wohlbekannt ist, nämlich, dass die Natur eines jeden Zweiges seiner Wurzel nahe ist und ihm gleicht.
Dabei wird alles, was in der Wurzel vorhanden ist, für deren Zweig begehrenswert sein, und er wird es lieben, sich danach sehnen und daraus Nutzen ziehen. Und umgekehrt wird der Zweig alles, was der Wurzel nicht eigen ist, ebenfalls meiden und wird es nicht dulden können, und es wird ihm Leiden bereiten. Und dieses Gesetz existiert zwischen jeder Wurzel und ihrem Zweig und kann nicht gebrochen werden.
Hier enthüllt sich uns die Möglichkeit, die Quelle aller Genüsse und Leiden zu begreifen, die sich in unserer Welt befinden. Weil der Schöpfer die Wurzel aller Geschöpfe ist, die Er erschuf, so werden alle Erscheinungen, alles, was in Ihm enthalten ist und von Ihm zu uns auf direkter Weise hinabsteigt, für uns anziehend und angenehm sein, weil unsere Natur unserer Wurzel – dem Schöpfer – nahe ist. Und alles, was Ihm uneigen ist und nicht von Ihm auf direkter Weise ausgeht, sondern Ergebnis der Äußerung der Polarität des Geschöpfes selbst ist, wird unserer Natur zuwider sein, und es wird uns schwerfallen, es zu erdulden. Das heißt, wir lieben die Ruhe und hassen Bewegung so sehr, dass wir jede Bewegung nur zur Erreichung der Ruhe ausführen. Und das, weil unsere Wurzel nicht in Bewegung begriffen ist, sondern in Ruhe – in Ihm gibt es keinerlei Bewegung. Daher ist es auch gegen unsere Natur und uns verhasst.
Aus dem gleichen Grunde lieben wir so sehr die Weisheit, Tapferkeit, Reichtum usw., denn all das gibt es in Ihm, weil Er unsere Wurzel ist. Und daher hassen wir alles dem Entgegengesetzte: Narrheit, Schwäche, Armut, weil sie in unserer Wurzel vollkommen fehlen. Und das führt zur Empfindung von Abscheu, Hass und zu unerträglichen Leiden.
10) Eben das gibt uns auch den verdorbenen Beigeschmack der Empfindung von Scham und Ungeduld, wenn wir von Anderen etwas in Form von Almosen oder Wohlwollen erhalten, weil dem Schöpfer nicht einmal eine Spur des Empfangens innewohnt – denn von wem soll Er empfangen? Infolgedessen, dass diese Erscheinung unserer Wurzel uneigen ist, ist sie uns zuwider und uns verhasst. Und umgekehrt verspüren wir Genuss, Wonne und Zärtlichkeit jedes Mal, wenn wir unseren Nächsten geben, weil es das in unserer Wurzel gibt, weil Er derjenige ist, der allen gibt.
11) Und nun bekamen wir die Möglichkeit zu klären, was in Wirklichkeit das Schöpfungsziel darstellt – „die Verschmelzung mit Ihm“. Jene ganze Erhabenheit und „Verschmelzung“, deren Erreichung uns durch unsere Beschäftigungen mit der Tora und den Geboten gesichert wird, sind nicht mehr und nicht weniger als die Ähnlichkeit der Zweige mit ihren Wurzeln, infolge derer die ganze Wonne, das ganze Wohlbehagen und alles Erhabene auf natürliche Weise vom Schöpfer ausgehen. Somit ist der Genuss nichts anderes als die qualitative Ähnlichkeit mit dem Schöpfer. Und wenn wir uns in unseren Taten all dem angleichen, was unserer Wurzel eigen ist, empfinden wir auf diese Weise Genuss. Und alles, was in unserer Wurzel fehlt, wird unerträglich und widerlich oder sehr schmerzhaft, was von dieser Erscheinung zwingend hervorgerufen wird. Somit hängt unsere ganze Hoffung vom Grade der Gleichheit unserer Eigenschaften mit unserer Wurzel ab und gründet sich nur darauf.
12) Und hier sind die Worte der Weisen, welche die Frage stellten: „Was für einen Unterschied macht es für den Allmächtigen, dass der eine das Vieh vom Halse schlachtet und der andere vom Hinterkopf? Denn die Gebote sind zu nichts anderem gegeben, als nur um durch sie die Geschöpfe zu reinigen“. Und „Reinigung“ bedeutet die Reinigung des schmutzigen „Körpers“ – des Willens, was auch der Zweck ist, welcher aus der ganzen Ausführung von Tora und Geboten resultiert.
Denn „der Mensch kommt als wilder Esel auf die Welt“: Wenn er geboren wird und aus dem Schoße der Schöpfung heraustritt, befindet er sich in einem vollkommen schmutzigen und niederen Zustand, was eine riesige Selbstliebe bedeutet, die in ihm veranlagt ist. Und seine ganze Bewegung bezieht sich auf sich selbst, ohne jeglichen Funken des Gebens an den Nächsten. Und er befindet sich in maximaler Entferntheit von der Wurzel, das heißt am anderen Ende. Denn Seine Wurzel ist absolutes Geben, ohne jeglichen Funken des Empfangens, und jener Neugeborene ist vollkommen im Empfangen für sich selbst versunken, absolut ohne Funken des Gebens. Daher gilt sein Zustand als der niedrigste Punkt von Niederträchtigkeit und Schmutz, der sich in der menschlichen Welt befindet.
Und im Maße seines Fortschreitens und Wachstums wird er von seiner Umgebung partielle Lektionen des „Gebens an den Nächsten“ erhalten. Und das hängt natürlich von der Entwicklungsstufe der Werte dieser Umgebung ab. Aber auch dann beginnt man seine Erziehung bei der Ausführung der Tora und der Gebote aus Liebe zu sich selbst, um eine Belohnung in dieser oder in der zukünftigen Welt zu erreichen, was lo liShma [(nicht um der Tora Willen)] heißt, weil es unmöglich ist, ihn auf eine andere Weise daran zu gewöhnen.
Wenn der Mensch aber erwachsen und reif werden wird, enthüllt man ihm, wie er zur Ausführung von Geboten liShma (um der Tora Willen) gelangen kann, was eine besondere Absicht darstellt, nur dem Schöpfer Freude zu bereiten. Wie RAMBAM schrieb, enthüllt man Frauen und Kinder nicht, wie man sich mit der Tora und den Geboten liShma beschäftigen muss, weil sie es nicht ertragen können. Erst wenn sie heranwachsen und Wissen und Verstand erlangen, lehrt man sie die Arbeit von liShma. Und so sprachen die Weisen: „Von lo liShma gelangt man zu liShma“, was die Absicht bedeutet, seinem Schöpfer Freude zu bereiten und nicht aus Liebe für sich selbst etwas zu tun.
Dank der natürlichen Möglichkeit, die von Anfang an in den Beschäftigungen mit der Tora und den Geboten liShma durch Denjenigen, Der die Tora gab, veranlagt ist – wie die Weisen sagten[2], sprach der Schöpfer: „Ich schuf den bösen Trieb, und ich schuf ihm die Tora als Gewürz“, – schreitet das Geschöpf fort und entwickelt sich, indem es die Stufen erklimmt und auf ihnen zu den Höhen der Erhabenheit aufsteigt, bis es in sich schließlich alle Funken der egoistischen Liebe verliert. Und es erheben sich alle Gebote in seinem Körper und alle seine Bewegungen sind nur um des Gebens willen. So, dass sogar jenes Alltägliche, welches er empfängt, ebenfalls mit der Absicht des Gebens verschmilzt, das heißt, damit er geben könne. Davon sprachen die Weisen: „Die Gebote sind nur zu dem Zwecke gegeben, um durch sie die Geschöpfe zu reinigen (zu vereinen).“
13) Es gibt zwei Teile in der Tora:
- Gebote, die zwischen dem Menschen und dem Schöpfer gelten;
- Gebote, die zwischen dem Menschen und seinem Nächsten gelten,
und beide beabsichtigen das Gleiche – das Geschöpf zum Endziel, nämlich Dwekut (der Verschmelzung) mit dem Schöpfer zu führen.
Mehr als das: Sogar die praktische Seite in ihnen beiden ist tatsächlich ein Ganzes. Denn wenn man etwas liShma tut, ohne jede Beimengung von Selbstliebe, das heißt ohne daraus Nutzen für sich selbst zu ziehen, wird der Mensch keinerlei Unterschied in seinen Handlungen wahrnehmen – ob er für die Liebe zu seinem Nächsten oder für die Liebe zum Schöpfer arbeitet.
Denn für jedes Geschöpf lautet das Naturgesetz, dass es alles, was sich hinter den Grenzen seines Körpers befindet, für leer und vollkommen irreal hält. Und jede Bewegung, die der Mensch aus Liebe zu seinem Nächsten ausführt, führt er mithilfe des Reflektierten Lichts aus, und jegliche Belohnung, die letzten Endes zu ihm zurückkehren wird, wird seinem Nutzen dienen, und daher können solche Handlungen nicht als „Liebe zum Nächsten“ bezeichnet werden, weil sie nach dem Endergebnis bewertet werden. Das gleicht einem Angestellten, der am Ende bezahlt wird, und dies kann absolut nicht als Nächstenliebe gelten.
Doch irgendeine Handlung oder Anstrengung „in Reinform“ aus Liebe zum Nächsten auszuführen, das heißt: ohne Funken des Reflektierten Lichts oder jegliche Hoffnung auf Belohnung, die zum Menschen zurückkehren wird, ist nach der Natur der Dinge nicht möglich. Und davon spricht „Tikunej Sohar“ von den Völkern der Erde: „Alle ihre Barmherzigkeit ist nur zu ihrem Wohl.“ Das bedeutet, dass ihre ganze Barmherzigkeit, mit welcher sie sich zu ihren Nächsten verhalten, oder zur Anbetung ihrer Götter, nicht aus der Nächstenliebe, sondern aus Selbstliebe resultiert, weil die Liebe zum Nächsten außerhalb der Grenzen der Natur steht, wie bereits erklärt wurde.
Daher sind nur diejenigen, welche die Tora und die Gebote ausführen, darauf vorbereitet. Nur indem man sich angewöhnt, die Tora und die Gebote auszuführen, um dem Schöpfer Freude zu bereiten, trennt man sich ganz langsam ab, tritt aus den Grenzen der natürlichen Schöpfung heraus und erlangt eine zweite Natur – die Nächstenliebe, von welcher die Rede war.
Das ist es, was die Weisen des Sohar dazu zwang, in allem die Völker der Erde aus der Nächstenliebe auszugrenzen. Und es sagten die Weisen, dass all ihre Barmherzigkeit nur zu ihrem Wohl ist, das heißt, es kann keine Nächstenliebe bei den Völkern der Erde geben, weil sie sich nicht mit der Tora und den Geboten liShma beschäftigen. Und die ganze Anbetung ihrer Götter besteht, wie bekannt ist, in Belohnung und Rettung in dieser Welt und in der zukünftigen. Sodass sogar die Anbetung ihrer Götter auf der Selbstliebe basiert. Daher werden wir bei ihnen keine Handlung sehen, die außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Körper vollbracht wäre, auch nur um eine Haaresbreite über ihrer Natur.
14) Somit sehen wir klar, dass sogar hinsichtlich der Ausführung der Tora und der Gebote liShma, sogar im praktischen Teil der Tora kein Unterschied zwischen diesen zwei Teilen der Tora wahrgenommen wird. Denn es ist notwendig, dass, bevor sich der Mensch darin perfektioniert, jede Handlung, sei es „für den Nächsten“ oder „für den Schöpfer“ von ihm als leer und nutzlos wahrgenommen wird. Doch mittels großer Anstrengungen erhebt er sich und nähert sich ganz langsam der zweiten Natur. Und dann wird er sofort des Endziels würdig – der Verschmelzung mit dem Schöpfer.
Daher ist jener Teil der Tora, der die Beziehungen zwischen dem Menschen und seinem Nächsten regelt, eher in der Lage, den Menschen zum begehrten Ziel zu führen, weil die Arbeit in den Geboten, welche die Beziehungen zwischen dem Menschen und dem Schöpfer regeln, stetig und bestimmt ist. Sie fordert nichts, und der Mensch gewöhnt sich leicht daran. Und alles, was man aus Gewohnheit tut, kann, wie wir wissen, keinen Nutzen bringen. Dagegen sind die Gebote zwischen dem Menschen und seinem Nächsten unstetig und unbestimmt, und Forderungen umgeben den Menschen, wohin er auch schaut. Sie sind daher ein sichereres Mittel, und ihr Ziel ist näher.
15) Nun kann man die Antwort von Hillel Hanasi an den Menschen verstehen, der die Verschmelzung mit dem Schöpfer begehrt, dass nämlich das Wesen der Tora das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ sei und die übrigen 612 Gebote Erklärungen sowie Vorbereitungen auf dessen Ausführung seien. Und sogar Gebote zwischen dem Menschen und dem Schöpfer sind ebenfalls in die Vorbereitung auf die Ausführung dieses Gebotes eingeschlossen, welches im Grunde das Endziel ist und aus der ganzen Tora und den Geboten resultiert. Wie die Weisen sagten: „Die Tora und die Gebote wurden zu nichts anderem gegeben, als um durch sie das Volk Israel zu reinigen (zu vereinen).“ Und dieses Gebot stellt die „Reinigung des Körpers“ dar, bis der Mensch eine zweite Natur erlangt, die in der Nächstenliebe besteht. Das heißt, ein einziges Gebot – „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – ist das Endziel, nach dessen Erreichung der Mensch unmittelbar der Verschmelzung mit dem Schöpfer gewürdigt wird.
Dabei sollte man sich nicht wundern, warum das nicht durch den Ausspruch „Liebe den Ewigen deinen Gott mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Wesen“ (Deuteronomium 6;5) bestimmt sei. Der Grund dafür liegt, wie es oben erwähnt wurde, darin, dass es für einen Menschen, der sich noch in den Schranken der Natur des Geschöpfes befindet, absolut keinen Unterschied zwischen der Liebe zum Schöpfer und der Nächstenliebe gibt, da alles, was sich außerhalb von ihm befindet, für ihn irreal ist.
Und weil jener Mensch, der die Verschmelzung mit dem Schöpfer zu erreichen suchte, [den Weisen] Hillel Hanasi darum bat, ihm die erwünschte Zusammenfassung der ganzen Tora zu erklären, damit ihm das Ziel klar werden würde und der Weg nicht schwer, wie er sagte: „Lehre mich die ganze Tora, während ich auf einem Fuß stehe“, so bestimmte ihm Hillel die Liebe zum Nächsten (Punkt 14), weil dieses Ziel am nächsten und erreichbarsten ist, weil es vor Fehlern sicher ist, und es Prüfer gibt.
16) Und nun haben wir die Möglichkeit zu verstehen, was weiter oben (Punkt 3 und 4) diskutiert wurde, im Sinne des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – wie die Tora uns verpflichtet, etwas auszuführen, was auszuführen unmöglich ist. Und man muss klarstellen, dass die Tora aus diesem Grunde nicht unseren heiligen Vorvätern Abraham, Isaak und Jakob gegeben wurde, und sich dies bis zum Auszug aus Ägypten hinzog, als sie als eine ganze Nation herausgingen, bestehend aus 600.000 Menschen über dem Alter von 20 Jahren. Und es wurde jeder aus dem Volk gefragt, ob er zu dieser erhabenen Arbeit bereit sei. Und nachdem jeder mit seinem ganzen Herzen und seiner ganzen Seele einwilligte und aufschrie: „Wir werden tun und wir werden hören“ – entstand die Möglichkeit, die ganze Tora auszuführen, und aus dem Unerreichbaren verwandelte es sich in Mögliches.
Und das ist tatsächlich so, wenn 600.000 Menschen aufhören werden, sich mit der Befriedigung eigener Bedürfnisse zu beschäftigen und kein anderes Ziel im Leben haben werden, als die Interessen ihrer Nächsten zu verteidigen, damit es ihnen an nichts fehlen würde. Aber auch das ist noch nicht alles. Dies werden sie mit riesiger Liebe tun, mit dem ganzen Herzen und der ganzen Seele, in voller Übereinstimmung mit dem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Und dann ist zweifellos klar, dass es niemand aus dem Volk nötig haben wird, sich um die eigene Existenz zu kümmern.
Auf diese Weise wird man völlig davon frei, sich um sein eigenes Überleben kümmern zu müssen, und hat es leichter, das Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ unter Einhaltung von allen in Punkt 3 und 4 erwähnten Bedingungen zu erfüllen. Warum sollte man sich noch um das eigene Überleben kümmern müssen, wenn 600.000 Liebende bereitstehen und dafür sorgen, dass es einem an nichts fehlt? Daher, nachdem das ganze Volk dazu einwilligte, wurde ihnen die Tora gegeben, weil sie nun fähig wurden, sie auszuführen. Bevor sie aber zur Größe eines ganzen Volkes angewachsen waren, und auch zu den Zeiten der Vorväter, als es im Land nur Einzelne gab, konnten sie tatsächlich nicht die Tora auf erwünschte Weise ausführen. Weil es unmöglich war, mit einer geringen Anzahl von Menschen die Ausführung der Gebote zwischen dem Menschen und seinem Nächsten in vollem Umfang des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ auch nur zu beginnen; daher wurde ihnen die Tora nicht gegeben.
17) Aus dem Gesagten können wir den Ausspruch aus der Kategorie der unverständlichsten Aussprüche der Weisen verstehen, die sagten, dass das ganze Volk Israel füreinander verantwortlich sei (bürge), was auf den ersten Blick vollkommen ungerecht ist, denn ist es etwa möglich, dass jemand sündigen oder ein Verbrechen begehen würde und seinen Schöpfer erzürnen, und du würdest ihn nicht kennen, und dennoch würde der Schöpfer seine Schuld von dir verlangen? Denn es steht geschrieben: „Die Väter sollen nicht für die Söhne getötet werden… jeder soll für seine Sünde sterben.“ (Deuteronomium 24; 16) Wie kann man also sagen, dass du für die Sünden eines dir vollkommen fremden Menschen bürgen wirst, den du nicht kennst und dessen Wohnort dir auch nicht bekannt ist.
Und wenn dir all das nicht genügt, dann schaue in das Traktat Kidushin (40b); dort steht geschrieben: „Rabbi Elasar, der Sohn von Rabbi Shimon sagt, dass die Welt nach der Mehrheit und ein einzelner Mensch nach der Mehrzahl gerichtet würde. Einer, der ein Gebot erfüllte – sein ist das Glück, weil er die Waagschale, seine und die der ganzen Welt, der Seite des Verdienstes zuneigte. Einer, der ein Verbrechen beging – wehe ihm, weil er die Waagschale, seine und die der ganzen Welt, der Seite der Schuld zuneigte.“ Wie es geschrieben steht: „Wegen eines Sünders geht viel Gutes verloren.“
Und Rabbi Elasar, der Sohn von Rabbi Shimon sagt, dass [derjenige] auch für die ganze Welt verantwortlich sei. Seiner Meinung nach ist die ganze Welt füreinander verantwortlich. Und jeder fügt durch seine Handlungen der ganzen Welt entweder Verdienst oder Schuld zu. Und das ist und das doppelte verwunderlich. Doch entsprechend dem oben Gesagten werden die Worte der Weisen in ihrem natürlichsten Sinne verständlich. Denn jeder Teil der 613 Gebote der Tora dreht sich nur um einen Pol – das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Folglich befindet sich dieser Pol außerhalb der Grenzen des Erfüllbaren, außer, wenn das ganze Volk und jeder Einzelne daraus dazu bereit sein werden.
[1] Anmerkung des Übersetzers: Das Wort Klal bedeutet in Hebräisch sowohl „Regel“, „Gesetz“ als auch „Gesamtheit“. Der Autor variiert zwischen diesen Bedeutungen.
[2] Traktat Kidushin 30
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