Das Wesen der Wissenschaft Kabbala
Rav Yehuda Ashlag
Bevor ich zur Beschreibung der Grundlagen der Wissenschaft der Kabbala schreite, die viele zu erklären versuchten, befinde ich es als notwendig, zuvor gut das Wesen ihrer Weisheit zu erklären, über welches meiner Meinung nach wenige Bescheid wissen. Und natürlich darf man nicht von den Ausgangspunkten eines Gegenstands sprechen, bevor wir nichts vom Gegenstand selbst erfahren.
Obwohl dieses Wissen breit und tief wie ein See ist, werde ich trotzdem aus aller Kraft und aus allem Wissen, welches ich in diesem Bereich erlangte, versuchen, die wahre Erforschung zu beschreiben und sie von allen Seiten so zu beleuchten, in einer für jede Seele ausreichenden Art, damit sie richtige Schlüsse daraus zu ziehen kann, so wie sie in Wahrheit sind, und damit den Betrachtern keine Möglichkeit bleibt, sich zu täuschen, wie es häufig in dieser Sache vorkommt.
Wovon handelt die Wissenschaft der Kabbala?
Diese Frage entsteht natürlich bei jedem vernünftigen Menschen. Um eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben, werde ich eine richtige Definition anführen, welche eine Prüfung durch Zeit bestanden hat. Diese Weisheit stellt nicht mehr und nicht weniger als eine Ordnung des Abstiegs der Wurzeln dar, die von der Verbindung zwischen Ursache und Wirkung (kausal) bedingt ist, und die ständigen und absoluten Gesetzen unterworfen ist, welche untereinander im Zusammenhang stehen und auf ein erhabenes, doch sehr verborgenes Ziel ausgerichtet sind, welches „die Offenbarung der Göttlichkeit des Schöpfers an Seine Geschöpfe in dieser Welt“ genannt wird.
Und hier wirkt das Allgemeine und Besondere:
Das „Allgemeine“ besteht darin, dass die ganze Menschheit am Ende ihrer Entwicklung unvermeidlich zur Offenbarung des Schöpfers kommen und einen langen Entwicklungsweg zum Abschluss bringen muss, um das zu erreichen, wovon die Weisen schrieben:
„Und es füllte sich die Erde mit dem Wissen vom Schöpfer, wie die Wasser das Meer bedecken. Und es wird nicht mehr ein Mensch seinen Nächsten und seine Brüder die Erkenntnis des Schöpfers lehren, weil alle Mich kennen werden, von jung bis alt“. Und es steht geschrieben: „Und dein Lehrer wird sich nicht mehr verbergen, und deine Augen werden deinen Lehrer erblicken“ (Jesaja 30,20).
Das „Besondere“ besteht darin, dass auch vor dem Erreichen dieses perfekten Zustandes durch die ganze Menschheit es in jeder Generation Auserwählte gibt, die ihn als Erste erreichen. Das sind diejenigen einzelnen Persönlichkeiten in jeder Generation, die der Erkenntnis bestimmter Stufen in der Offenbarung des Schöpfers würdig wurden. Es sind Propheten und Diener des Schöpfers. Wie die Weisen sagten: „Es gibt keine Generation, in welcher es keine solchen wie Abraham und Jakob gäbe“.
Denn nach den Worten der Weisen findet die Offenbarung des Schöpfers in jeder Generation statt. In dieser Hinsicht gibt es seitens unserer Weisen keine Uneinigkeit, und wir verlassen uns auf ihre Worte.
Die Vielfalt der spirituellen Körper (Parzufim), der Sefirot und der Welten
Demgemäß entsteht jedoch eine Frage: Wenn, wie zuvor geklärt wurde, diese Wissenschaft nur eine besondere Mission hat – woraus resultiert dann die Vielfalt an spirituellen Körpern, Sefirot und ihrer Wechselbeziehung, mit welchen die kabbalistischen Bücher gefüllt sind?
Betrachten wir beispielsweise irgendein kleines Tier, dessen ganze Aufgabe darin besteht, sich zu ernähren und eine bestimmte Zeit auf der Welt zu verweilen, um sich fortzupflanzen und damit den Fortbestand seiner Art zu gewährleisten, dann kann man, wenn man aufmerksam hinschaut, sehen, dass es aus einer komplexen Verbindung von Tausenden von Fasern und Sehnen besteht, was auch Physiologen und Anatomen in Untersuchungen festgestellt haben. Und darüber hinaus gibt es noch zehntausende Verbindungen, die dem Menschen noch nicht bekannt sind. An diesem Beispiel kann man nachvollziehen, welche Mannigfaltigkeit an unterschiedlichen Themen und Kanälen miteinander verbunden werden müssen, um dieses erhabene Ziel zu enthüllen und zu erreichen.
Zwei Pfade: von oben nach unten und von unten nach oben
Im Grunde wird die Wissenschaft Kabbala in zwei parallele Pfade der Erkenntnis der Höchsten lenkenden Kraft unterteilt. Sie sind gleichwertig wie zwei Tropfen Wasser und es gibt keinen Unterschied zwischen ihnen, sondern der eine Pfad führt von oben nach unten bis zu dieser Welt und der zweite Pfad beginnt in dieser Welt und erklimmt von unten nach oben dieselben Stufen, die der erste Pfad während seines Abstieges von der Wurzel von oben nach unten gebildet hat.
Der erste Pfad heißt in der Sprache der Kabbala „die Reihenfolge des Abstiegs der Welten, Parzufim und Sefirot„, seien sie konstant oder veränderlich. Der zweite Pfad heißt in der Kabbala „die Erkenntnis, oder Stufen der Prophezeiung und des Höheren Lichtes“.
Jener Mensch, der der Höchsten Kraft würdig wird, muss denselben Wegen von unten nach oben folgen, indem er nach und nach jedes Detail und jede Stufe erkennt – in völliger Übereinstimmung mit den Gesetzen, die bei dem Abstieg der höchsten Kraft von oben nach unten festgesetzt wurden.
Die vollkommene Erkenntnis des Schöpfers findet jedoch nicht so wie bei materiellen Sachen auf einmal statt, sondern sie tritt in den Empfindungen des Menschen im Verlauf einer bestimmten Zeit hervor, abhängig vom Grad der Korrektur des Erkennenden, bis sich ihm die Vielfalt aller Stufen, die von oben nach unten geordnet wurden, offenbart. Deren Erkenntnis ist vorbestimmt und findet konsequent statt, eine nach der anderen, und jede folgende Erkenntnis ist höher als die vorherige, so dass sie einer Leiter ähneln, und daher als Stufen bezeichnet wurden.
Abstrakte Bezeichnungen
Viele meinen, dass alle Worte und Begriffe, die in der Wissenschaft der Kabbala benutzt werden, zur Kategorie des Abstrakten gehören, und zwar, weil die Kabbala die Verbindung mit dem Schöpfer und spirituelle Welten erforscht, die sich außerhalb von Zeit und Raum befinden, was sogar in der gewagtesten Einbildung unerfassbar ist. Daher beschließen sie, dass alles, was zur spirituellen Kategorie gehört, selbstverständlich rein abstrakte Namen sind, oder noch erhabenere und verschlossenere Begriffe als die abstrakten Namen, die sogar von ihren angeblichen Wurzeln vollkommen losgelöst sind.
Das ist jedoch nicht wahr sondern ganz im Gegenteil: Die Kabbala benutzt keine anderen Namen und Bezeichnungen als diejenigen, die real und greifbar sind. Dies ist ein eisernes Gesetz aller Weisen der Kabbala: „Alles, was wir nicht erfassen, können wir nicht beim Namen nennen oder mit Worten definieren“.
Und hier musst du verstehen, dass das Wort „Erkenntnis“ die letzte Stufe des Verständnisses bedeutet.
Das resultiert aus dem Ausspruch: „und deine Hand wird erfassen“. (Hebr. Ki Tasig Jadcha) Das heißt: Solange keine absolut klare Einsicht erreicht ist, so, als würde man es mit den Händen fassen können, bezeichnen es die Kabbalisten nicht als Erkenntnis, sondern geben dem andere Bezeichnungen wie Verständnis, Wissen, usw.
Echtheit der Wissenschaft Kabbala
Aber auch in unserer materiellen Wirklichkeit, die sich uns in unseren Empfindungen offenbart, existieren ebenfalls reale Dinge, deren Wesen wir noch nicht einmal mit Hilfe unserer Vorstellungskraft erkennen können, wie zum Beispiel solche Erscheinungen wie Elektrizität und Magnetismus, die als „Ströme“ bezeichnet werden.
Wer kann behaupten, dass sie nicht real sind während wir in vollkommener Zufriedenheit ihre Funktionalität erkennen und uns vollkommen gleichgültig ist, dass wir eigentlich keinerlei Erkenntnis von deren Wesen haben wie zum Beispiel vom Wesen der Elektrizität.
Aber diese Bezeichnung ist so real und uns so nah, so dass der Begriff „Elektrizität“ sogar kleinen Kindern genauso geläufig ist wie die Bezeichnungen „Brot“, „Zucker“, usw.
Und mehr als das: Wenn du dich in Erkenntnis ein wenig üben wolltest, würde ich dir sagen, dass so, wie wir nicht fähig sind, das Wesen des Schöpfers zu begreifen, wir genauso wenig fähig sind, das Wesen der von Ihm hervorgebrachten Schöpfungen zu begreifen. Und sogar die materiellen Dinge, die wir mit Händen anfassen können, und unsere ganze Bekanntschaft mit Freunden und Verwandten in der Welt der Tat, die vor uns liegt, ist nichts anderes als eine „Bekanntschaft mit Handlungen“, die durch das Zusammenwirken zwischen ihnen und unseren Sinnesorganen erzeugt wird. Und das stellt uns vollkommen zufrieden, obwohl wir keine Vorstellung von ihrem Wesen bekommen.
Darüber hinaus bist du nicht einmal fähig, das Wesen deiner selbst zu begreifen, und alles, was du von dir und über dich weißt, ist nichts weiter als der Ablauf der Handlungen, die aus deinem Wesen hervorgehen.
Nun wirst du leicht verstehen, dass alle Bezeichnungen und Begriffe, die wir in den kabbalistischen Büchern antreffen, ebenfalls real und greifbar sind, ungeachtet der Tatsache, dass wir keinerlei Erkenntnis von deren Wesen haben, weil sich nämlich bei den Lernenden das Gefühl der vollkommenen Befriedigung vom vollen und vollendeten Wissen einstellt, obwohl es sich hierbei lediglich um die Bekanntschaft der Handlungen handelt, die sich als Ergebnis des Zusammenwirkens zwischen dem Höheren Licht und dem das Licht erkennenden Menschen entfaltet.
Aber das reicht vollkommen aus, da das Gesetz existiert: „Alles, was von Seiner Lenkung bestimmt wird, und von Ihm ausgeht, wird, sobald es die Wirklichkeit der Natur der Geschöpfe erreicht, von ihnen als eine volle Befriedigung wahrgenommen“. Ähnlich wie der Mensch keinen Bedarf an einem sechsten Finger verspürt, weil ihm fünf Finger volkommen ausreichen.
Materielle Werte und Bezeichnungen von Körperteilen, die in Büchern zur Kabbala anzutreffen sind.
Jeder klar denkende Mensch erkennt, dass dort, wo die Rede von Spiritualität ist (um nicht zu erwähnen – vom Göttlichen), es keine Buchstaben und keine Worte gibt, um sie auszudrücken. Denn unser ganzer Wortschatz ist nichts anderes als die Verbindung von Buchstaben, unserer Einbildung und der Empfindungen unserer Sinnesorgane. Und wie kann man sich dort darauf verlassen, wo es weder Platz für die Einbildung noch für die Empfindungen unserer Sinnesorgane gibt?
Sogar wenn man die feinsten Worte nimmt, welche man in diesen Fällen benutzen kann, zum Beispiel die Worte „Höheres Licht“ oder „Einfaches Licht“, so sind diese dennoch Begriffe aus der Phantasie, da sie aus der Analogie mit dem Licht der Sonne oder einer Kerze resultieren oder mit dem „hellen“ Gefühl der Befriedigung verglichen werden, welches beim Menschen bei der Lösung eines ihn quälenden Zweifels entsteht. Wie kann man davon bei der Beschreibung der Spiritualität und der Göttlichen Vorsehung Gebrauch machen, denn das würde zu nichts anderem außer zu Lüge und Betrug der Studierenden führen.
Umso schwieriger ist es dann, wenn wir mit diesen Worten ein genaues Wissen, das im Laufe der mündlichen Übertragung erlangt wurde, überbringen müssen, denn so ist es in den Erforschungen dieser Wissenschaft üblich, und der Kabbalist muss sich absolut genauer Definitionen bedienen, um diese an die Erkennenden zu vermitteln. Und wenn der Weise nur in einem einzigen misslungenen Wort versagt, verursacht er dadurch Verwirrung der Kentnisse bei den Studierenden, und sie werden nicht verstehen, was er sagt, das vor und nach diesem Wort Gesagte, sowie alles, was mit diesem Wort in Verbindung steht. Dies ist allen, die kabbalistische Bücher aufmerksam lesen, bekannt.
Und stell dir die Frage: Wie könnten Weise der Kabbala diese lügnerischen Worte verwendend, mit ihrer Hilfe die Verbindungen in der Kabbala erklären? Denn wie es bekannt ist, haben falsche Worte keine Definitionen, da Lügen keine Beine haben.
Bevor wir voranschreiten, müssen wir also das Gesetz von Wurzel und Zweig studieren, welches die Verhältnisse zwischen den Welten bestimmt.
Das Gesetz von Wurzel und Zweig in Bezug auf die Welten
Die Weisen der Kabbala haben festgestellt, dass die vier Welten, die von oben nach unten als Azilut, Brija, Yezira und Assija bezeichnet werden, beginnend mit der höchsten von ihnen, der Welt Azilut, bis hin zu unserer greifbaren körperlichen Welt Assija, in ihrer Form einander in allen Details und Geschehnissen gleichen. Das heißt, dass die ganze Wirklichkeit und alle ihre Erscheinungsformen, die in der ersten Welt existieren, auch in der zweiten, der darunter befindlichen, niedrigeren Welt, vorkommen, ohne irgendwelche Abweichungen. Und so ist es in allen folgenden Welten, bis hin zur unseren, der von uns empfundenen Welt.
Und es gibt keine Unterschiede zwischen den Welten – außer in der Qualität des Materials der Erscheinungen der Realität, was eben auch die Höhe jeder der Welten bestimmt, sodass das Material der Erscheinungen der Wirklichkeit der ersten, höchsten Welt am „feinsten“ im Vergleich zu allen niedrigeren ist. Und das Material der Erscheinungen der Wirklichkeit der zweiten Welt ist „gröber“ als das Baumaterial der ersten Welt, aber feiner als das aller im Verhältnis zu ihr niedrigeren Stufen.
Und diese Abstufung wird beibehalten, bis hin zu unserer Welt, in der die Materie der Erscheinungsformen der Wirklichkeit gröber und „dunkler“ ist als in allen ihr vorangehenden Welten. Zugleich sind die Erscheinungsformen der Wirklichkeit in allen Welten konstant und gleichen sich in allen Einzelheiten, sowohl in der Qualität als auch in der Quantität ohne Unterschied.
Das kann man mit einem Stempel und seinem Abdruck vergleichen, wenn die kleinsten Formen vom Stempel in sämtlichen Details und in Genauigkeit auf das von ihm Abgedruckte übergehen. Genauso ist es mit den Welten: Jede niedere Welt ist ein Abdruck der verhältnismäßig höheren Welt. Und alle Formen, die in der höheren Welt existieren, werden sowohl qualitativ als auch quantitativ in der unteren Welt abgedruckt.
Also gibt es in der unteren Welt kein einziges Detail der Wirklichkeit oder deren Erscheinung, für welches es nicht ein Muster in der höheren Welt gäbe und welche sich wie zwei Tropfen Wasser vollkommen gleichen würden. Das heißt „Wurzel und Zweig“ und bedeutet, dass die in der unteren Welt befindliche Ausprägung als „Zweig“ des in der oberen Welt befindlichen Musters bezeichnet wird, das gleichsam die Wurzel der unteren Ausprägung ist, weil diese Ausprägung in der höheren Welt entspringt und in der unteren abgedruckt wird.
Das meinten die Weisen, wenn sie schrieben, dass „es keinen einzigen Grashalm unten gibt, welcher kein Schicksal und keinen Aufseher oben hätte, der ihn schlagen und dabei sagen würde: Wachse!“ Das heißt, dass die Wurzel, die „Schicksal“ genannt wird, ihn dazu zwingt, qualitativ sowie quantitativ zu wachsen, indem der Grashalm sich die Eigenschaften aneignet, die für den Abdruck des Stempels charakteristisch sind.
Das ist das Gesetz von Wurzel und Zweig, welches in jeder Welt gültig ist, in allen Erscheinungsformen der Realität in Bezug auf die jeweils höhere Welt.
Die Sprache der Kabbalisten ist die Sprache der Zweige
Das bedeutet, dass die Zweige aufgrund der Anweisungen von Wurzeln, die deren Muster sind und unbedingt in der höheren Welt existieren, erschaffen wurden. Denn es gibt nichts in der niederen Welt, das nicht seinen Anfang in der jeweils höchsten Welt nehmen und nicht daraus resultieren würde, ähnlich wie ein Abdruck die Form des Stempels wiederholt. Die Wurzel, die sich in der höheren Welt befindet, zwingt den entsprechenden Zweig in der niederen Welt dazu, ihre Form und ihre Eigenschaften anzunehmen. So schrieben die Weisen: „Das Schicksal aus der höheren Welt, welches für den Grashalm in der niederen Welt bestimmt ist, schlägt diesen Grashalm und zwingt ihn dabei entsprechend seiner Bestimmung zu wachsen“: Und dementsprechend spiegelt jeder Zweig in dieser Welt genau das Muster wieder, welches sich in der höheren Welt befindet.
So fanden die Weisen der Kabbala zu ihren Zwecken einen breiten beeindruckenden Wortschatz, der für die Umgangssprache vollkommen ausreicht, weil sie es ihnen erlaubt, miteinander zu verkehren, von spirituellen Wurzeln der höheren Welten zu sprechen, indem sie sogar einfach voreinander die Bezeichnung des niederen Zweiges erwähnen, der in den Empfindungen dieser Welt genau bestimmt wird.
Dies erlaubt es dem Zuhörer, die höhere Wurzel, auf die der Zweig zeigt, zu verstehen, weil dieser materielle Zweig klar darauf verweist, da er im Grunde ein Abdruck dieser Wurzel ist. So liefert uns jedes Objekt der von uns wahrgenommenen Welt samt allen seinen Erscheinungsformen eine genaue Bezeichnung und Definition, die auf die höheren spirituellen Wurzeln verweist, obwohl es nicht möglich ist, die Wurzel selbst mit einem Wort oder einem Laut auszudrücken, weil sie sich über jeglicher Vorstellungskraft befindet. Doch dank der Existenz der Zweige, die der Wahrnehmung unserer Welt zugänglich sind, hat jedoch die verbale Artikulation der höchsten Wurzeln ein Existenzrecht erlangt.
So ist das Wesen der Umgangssprache der Kabbalisten, mit deren Hilfe ihre höchsten Erkenntnisse von einem zum anderen, von Generation zu Generation, mündlich und schriftlich weitergereicht werden. Und das gegenseitige Verständnis ist vollkommen ausreichend, weil diese Sprache über einen solchen Grad der Genauigkeit verfügt, wie es für die Kommunikation und Forschungen im Bereich dieser Wissenschaft notwendig ist. Das heißt, dass ein so exakter Rahmen erschaffen wurde, der es nicht erlaubt, sich zu irren, weil jeder Zweig seine natürliche Definition hat, die nur für ihn charakteristisch ist und deshalb mit absoluter Genauigkeit auf seine spirituelle Wurzel verweist.
Und wisse, dass die Sprache der Zweige der Kabbala für die Erklärung der Begriffe dieser Wissenschaft am bequemsten ist im Vergleich zu allen unseren gewöhnlichen Sprachen, die wegen der Massenverwendung verblasst sind. Wie das aus der Tora bekannt ist, wird das als Nominalismus bezeichnet. Durch die häufige Verwendung der Worte wird ihre Bedeutung ausgehöhlt, was zur Entstehung großer Schwierigkeiten in der Vermittlung genauer Meinungen von einem zum anderen sowohl mündlich als auch schriftlich führt.
Dem ist aber in der Sprache der Zweige der Kabbala nicht so, die aus Bezeichnungen der Geschöpfe und ihrer Erscheinungsformen zusammengesetzt ist, die sich uns in bestimmter Weise gemäß Gesetzen der Natur darstellen und sich niemals verändern. Und man braucht nicht zu befürchten, dass die Zuhörer oder Leser sich im Verständnis des in den Worten eingeschlossenen Sinns irren werden, da die Naturgesetze absolut und unveränderlich sind.
Die Weitergabe aus dem Munde eines weisen Kabbalisten an einen verstehenden Empfänger
RAMBAM schrieb im Vorwort zu seinem Kommentar der Tora: „Und ich schließe darin einen Bund mit jedem, der in dieses Buch blickt, und verkünde, dass niemand, über welchen Verstand er auch verfügen würde, keine von den Andeutungen, mit welchen ich die Geheimnisse der Tora beschreibe, verstehen wird, und es werden meine Worte nur aus dem Munde eines weisen Kabbalisten an das Ohr eines verstehenden Empfängers erkannt“. Davon schrieb auch Chaim Vital im Vorwort zum Buch „Baum des Lebens„. Und wie die Weisen schrieben (Chagiga,11): „Man kann Kabbala nicht alleine studieren, außer wenn man weise ist und mit seinem eigenen Verstand versteht“.
Ihre Worte sind im Bezug darauf verständlich, dass man aus dem Munde eines erkennenden Kabbalisten empfangen soll. Was ist das aber noch für eine verpflichtende Bedingung, wenn auch noch der Schüler zuvor klug sein und selbst verstehen soll? Und wenn dem nicht so ist, so darf man ihn nicht unterrichten, auch wenn er der größte Gerechten wäre. Wenn er aber bereits so klug ist und selbst versteht, so hat er keine Notwendigkeit, bei anderen zu lernen.
Vereinfacht muss man das von Weisen oben Gesagte so verstehen, dass alle Worte, die laut von einem Munde ausgesprochen werden, nicht in der Lage sind, das Wesen selbst eines spirituellen Begriffes aus jenem Göttlichen zu übermitteln, welches sich außerhalb von Zeit, Raum und allem Eingebildeten befindet. Und nur eine besondere Sprache, die speziell dazu bestimmt ist, die „Sprache der Zweige“ ist fähig, die Relationen zwischen Zweigen und ihren spirituellen Wurzeln auszudrücken.
Obwohl jedoch diese Sprache über unvergleichbar mehr Möglichkeiten als jede andere gewöhnliche Sprache in den Erforschungen der Wissenschaft der Kabbala verfügt, kann sie nur von einem gehört werden, der selbst klug ist, das heißt von jemandem, der die Relationen zwischen den Wurzeln und den Zweigen kennt und versteht. Denn es ist nicht möglich, diese Verbindungen von unten nach oben zu verstehen, das heißt, es ist vollkommen unmöglich, bei der Betrachtung von niederen Zweigen irgendeine Analogie mit den höheren Wurzeln zu finden, oder sie sich Kraft der Phantasie auszumalen.
Im Gegenteil, der Niedere lernt vom Höheren. Das heißt, man muss zunächst die höheren Wurzeln erkennen, deren Zahl im Spirituellen jede Vorstellung übertrifft, und zwar wirklich jenseits der Einbildung in reiner Erkenntnis erfassen. Und erst nach der eigenen Erkenntnis der Wurzeln kann er die Zweige ansehen, die er in dieser Welt wahrnimmt und die ganze Komplexität, Qualität und Quantität der Zusammenhänge zwischen jedem Zweig und seiner Wurzel verstehen.
Und erst, nachdem er all das erfährt und gut versteht, wird er zu einer gemeinsamen Sprache mit seinem Lehrer (Kabbalisten) gelangen – der „Sprache der Zweige“ , mithilfe welcher der weise Kabbalist ihm alle Nuancen seiner Weisheit und sein Wissen über das Geschehen in den höchsten spirituellen Welten zu vermitteln fähig ist; all das, was er von seinen Lehrern empfangen hat, zusätzlich zu dem, was er selbst erkannt hat, denn nun haben sie eine gemeinsame Sprache und verstehen einander.
Wenn aber der Schüler noch unzureichend klug ist und selbst diese Sprache noch nicht versteht, dass heißt, wenn er nicht versteht, wie die Zweige auf ihre Wurzeln verweisen, so ist selbstverständlich, dass sein Lehrer keine Möglichkeit hat, ihm auch nur ein Wort aus dieser spirituellen Weisheit zu erklären. Und es ist nicht möglich, mit ihm über die Erforschungen der Kabbala zu sprechen, weil die beiden keine gemeinsame Sprache haben und sie beide wie stumm sind. Das heißt, es gibt keinen anderen Weg, die Kenntnisse der Kabbala zu vermitteln, als an jemanden, der bereits selbst Wissen und Verstand besitzt.
Es entsteht jedoch eine weitere Frage: Wie soll dementsprechend der Schüler selbständig die Weisheit erlangen, die Relationen zwischen Wurzel und Zweig begreifen, wenn er bislang erst danach strebt, die höheren Wurzeln zu erkennen? Die Antwort ist wie folgt: Die Rettung wird zu einem Menschen kommen, wenn er der Hilfe des Schöpfers bedürfen wird. Und derjenige, der in Seinen Augen Gnade findet, erfüllt sich mit Ihm, indem er sich mit eben jenem Licht Chochma, Bina und Daat erfüllt, während er das Höhere erkennt. Es ist unmöglich, hier mit etwas Irdischem zu helfen. Erst nachdem er der Gnade des Schöpfers und der höchsten Erkenntnis gewürdigt wird, kann er kommen und die grenzenlose Weisheit der Kabbala aus dem Munde eines wissenden Kabbalisten erhalten, weil sie nun eine gemeinsame Sprache haben.
Bezeichnungen, die dem menschlichen Geist fremd sind
Das oben Gesagte in Betracht ziehend, muss man verstehen, warum in Büchern zur Kabbala manchmal Termini und Bezeichnungen anzutreffen sind, die dem Geist eines Menschen vollkommen fremd sind. Am häufigsten wiederholen sie sich in grundlegenden Büchern zur Kabbala: im Sohar und in dessen Ergänzungen, in Büchern von ARI. Uns es ist verwunderlich: Warum benutzten die Weisen solch niedere Termini, um so erhabene und heilige Ideen auszudrücken?
Nachdem man sich jedoch die aneignet, die oben angeführt wurden, wird der Kern der Dinge klar. Es stellt sich nämlich heraus, dass es vollkommen unmöglich ist, sich zur Erklärung dieser Wissenschaft einer anderen Sprache der Welt zu bedienen, außer der besonderen „Sprache der Zweige“ , die speziell dafür bestimmt ist und ihren höheren Wurzeln entspricht. Daher ist selbstverständlich, dass es unmöglich ist, auf jeglichen Zweig oder dessen Äußerung wegen seines niederen Niveaus zu verzichten, und ihn nicht zur Beschreibung von Verbindungen in der Kabbala zu benutzen, weil in unserer Welt kein anderer Zweig existiert, den man stattdessen nehmen könnte.
Wie es keine zwei Härchen gibt, die sich von einer Wurzel ernähren, gibt es auch bei uns keine zwei Zweige, die zu einer Wurzel gehören. Und wenn man auf die Verwendung irgendeiner Bezeichnung verzichten würde, würden wir nicht nur den ihr entsprechenden Begriff aus der höheren spirituellen Welt verlieren, weil es kein anderes Wort im Austausch dazu gibt, welches fähig wäre, sie in der Beschreibung dieser Wurzel zu ersetzen, sondern würden auch der kompletten Wissenschaft als Ganzes einen Schaden zufügen. Denn auf diese Weise würde ein Glied aus der Gesamtkette der Wissenschaft herausfallen, welches aber ein Bindeglied ist.
Deswegen würde der ganzen Wissenschaft ein Schaden zugefügt werden, weil es keine andere Wissenschaft in der Welt gibt, deren Komponenten nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung so eng miteinander verflochten und verbunden sind wie die Wissenschaft der Kabbala, die tatsächlich von Anfang bis Ende wie eine lange Kette verbunden ist. Wenn auch nur eine kleine Kenntnis vor uns verborgen ist, verdunkelt sich die ganze Weisheit, weil alle ihre Teile so miteinander verflochten sind, sodass sie zu einem Ganzen verschmelzen.
Jetzt sollte die Benutzung unangemessener fremder Bezeichnungen nicht verwundern, weil es keine Freiheit in ihrer Wahl gibt, und man kann nicht die eine durch eine schlechte und eine schlechte durch eine gute ersetzen. Man muss immer exakt, gemäß der Notwendigkeit, den Zweig oder die Erscheinung auswählen, die auf ihre höheren Wurzeln verweisen, in dem Maße, wie es für die Sache notwendig ist. Man ist auch verpflichtet, eine ausführliche Deutung zu liefern, indem man eine exakte Definition formuliert, die für das Verständnis der Studierenden ausreicht.
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[…] dem Morgenunterricht vom 17.5.2017, Artikel: Das Wesen der Wissenschaft Kabbala von Yehuda […]
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