Materie und Form in der Wissenschaft Kabbala
Rav Yehuda Ashlag
Die Wissenschaft wird im Ganzen in zwei Teilgebiete aufgeteilt: Das erste ist die Erkenntnis der Materie und das zweite die Erkenntnis der Form. Das bedeutet, dass in der uns umgebenden Wirklichkeit nichts existiert, in dem man nicht Materie und Form erkennen könnte. Zum Beispiel ein Tisch. Er hat eine Materie aus Holz und eine Form – die Form eines Tisches. Und die Materie, also Holz, ist Träger einer Form, nämlich der eines Tisches. Genauso bei dem Wort „Lügner“: Es hat als Materie den Menschen und eine Form – „Lügner“, so ist die Materie der Mensch, Träger der Form „Lügner“. Und so ist es in allem.
Ähnlich dazu wird auch die Wissenschaft, welche die Wirklichkeit untersucht, in zwei Teilgebiete unterteilt:
- die Erforschung der Materie und
- die Erforschung der Form.
Das Teilgebiet der Wissenschaft, das die Eigenschaften der in der Realität existierenden Materie untersucht (die reine Materie ohne deren Form sowie die Materie gemeinsam mit deren Form), gehört zur „Erkenntnis der Materie“. Diese Erkenntnis hat eine empirische Basis, das heißt, sie ist auf Beweisen und Gegenüberstellungen von Ergebnissen praktischer Versuche begründet, die sie als glaubwürdige Basis für wahre Schlussfolgerungen akzeptiert.
Der andere Teil der Wissenschaft betrachtet nur die Form, die von der Materie gelöst ist und in keinem Zusammenhang zu ihr steht. Mit anderen Worten werden die Formen „Wahrheit“ und „Lüge“ von der Materie gelöst, das heißt, von Menschen, die deren Träger sind, und es wird nur die Gültigkeit oder Nichtgültigkeit dieser Formen selbst in Reinform betrachtet, ohne dass sie in irgendeiner Materie verwirklicht wären. Das heißt „die Erkenntnis der Form“.
Diese Erkenntnis hat keine empirische Basis, weil solch abstrakte Begriffe keine Verwirklichung in der durch Erfahrung bestätigten Praxis erfahren, weil sie sich hinter den Grenzen der realen Wirklichkeit befinden. Denn diese abstrakte Form ist reines Produkt der Phantasie, das heißt, nur die Phantasie kann sie uns ungeachtet der Tatsache ausmalen, dass sie nicht in der Wirklichkeit existiert.
Dementsprechend basiert jegliche wissenschaftliche Erkenntnis dieser Art ausschließlich auf theoretischer Grundlage, wird also nicht durch praktische Versuche unterstützt, sondern ist lediglich Produkt der Erforschung durch theoretische Diskussion. Zu dieser Kategorie gehört hohe Philosophie. Und eben deshalb hat ein großer Teil moderner Wissenschaftler aufgehört, sich mit ihr zu beschäftigen, weil sie nicht mit diesen Diskussionen zufrieden sind, die auf theoretischen Mutmaßungen aufgebaut sind, die ihrer Meinung nach eine unzuverlässige Grundlage bieten – für zuverlässig halten sie nur die empirische Basis.
Die Wissenschaft der Kabbala wird auch in die zwei oben genannten Teilgebiete unterteilt: die Erkenntnis der Materie und die Erkenntnis der Form. Allerdings ist in ihr, im Vergleich zur klassischen Wissenschaft, sogar die Erkenntnis der Form komplett auf wissenschaftlicher Forschung der praktischen Wahrnehmung, also auf der Basis der praktischen Erfahrung aufgebaut.