Dies ist für Yehuda
Rav Yehuda Ashlag
(aus einem Kommentar zur Pessach–Haggada)
„Das Brot, welches unsere Väter im Land Ägypten aßen.“ Die Mizwa des Essens der Maza[1] wurde den Kindern Israels bereits vor dem Verlassen Ägyptens gegeben und bezieht sich auf den bevorstehenden Exodus, der in aller Eile stattfand. Daraus folgt, dass ihnen die Mizwa vom Maza-Essen noch während ihrer Sklaverei gegeben wurde, während das Ziel dieser Mizwa sich auf die Zeit der Erlösung bezog, da sie in aller Eile geflüchtet waren.
Darum erinnern wir uns sogar noch heute gerne an das Maza-Essen in Ägypten, da wir uns auch wie Sklaven in einem fremden Land befinden. Auch beabsichtigen wir, mit der Mizwa des Maza-Essens die Erlösung, die bald, in unseren Tagen, geschehen wird, zu erlangen – Amen. Genauso wie sie unsere Väter in Ägypten aßen.
„Dieses Jahr – hier… nächstes Jahr – Söhne der Freiheit.“ Oben steht geschrieben, dass man in der Absicht dieser Mizwa die für uns bestimmte sichere Erlösung hervorrufen kann, so, wie es bei der Mizwa des Maza-Essens unserer Vorväter in Ägypten war.
„Sklaven waren wir…“ In Massechet Psachim steht geschrieben: „Es beginnt mit der Schande und endet mit Lob.“ Über die Schande waren sich Rav und Shmuel nicht einig: Rav sagt anfänglich: „Am Anfang waren unsere Väter Götzenanbeter“ und Shmuel sagt: „Anfänglich waren wir Sklaven.“ Und der Brauch folgte Shmuel.
Wir müssen diesen Meinungsunterschied verstehen. Der Grund für „Mit Schande beginnen und mit Lob aufhören“ ist so, wie geschrieben steht: „…soweit wie Licht Dunkelheit überkommt“. Daher müssen wir an das Thema der Schande erinnern, dass wir dadurch Kenntnis über die vom Schöpfer für uns vorgesehenen Gnaden erwerben.
Es ist bekannt, dass unser ganzer Beginn nur in der Schande liegt, da „Abwesenheit vor Anwesenheit“ kommt. Darum heißt es „der Mensch wird als wilder Esel geboren“. Und zum Schluss nimmt er die Form eines Menschen an. Dieses trifft auf jedes Element in der Schöpfung zu, und so war es auch beim Wurzelschlagen der gesamten israelitischen Nation.
Der Grund liegt darin, dass der Schöpfer die Schöpfung aus dem Nichts (Jesh mi Ajn) entstehen ließ. Und wenn dem so ist, so gibt es keine Existenz, die zuvor nicht im Nichts enthalten wäre. Diese Abwesenheit hat jedoch eine bestimmte Form in jedem Schöpfungselement, denn wenn wir die Wirklichkeit in vier Arten unterteilen – bewegungslos, pflanzlich, tierisch und sprechend – dann finden wir, dass der Beginn des Bewegungslosen notwendigerweise völlige Abwesenheit ist.
Der Beginn des Pflanzlichen ist jedoch nicht das völlige Nichtvorhandensein, sondern nur dessen vorheriger Zustand, welcher, verglichen mit sich selbst, als Abwesenheit angesehen wird. Und was das Säen und Verrotten betrifft, welches für jedes Samenkorn lebensnotwendig ist, so wird dieses aus der Form des Bewegungslosen gewonnen.
Das Gleiche betrifft die Abwesenheit des belebten und des sprechenden Grades: Die pflanzliche Form wird, in Hinblick auf die tierische Form, als Abwesenheit betrachtet, und die tierische Form als Abwesenheit, was den sprechenden Grad anbetrifft. Somit lehrt uns die Schrift, dass die Abwesenheit vor der Existenz des Menschen die Form des Tieres ist. Darum steht geschrieben: „Der Mensch wird als wilder Esel geboren“, da es für jede Person nötig ist, im Zustand eines Tieres anzufangen.
Und die Schriften sagen: „Mensch und Tier erhältst Du, oh Ewiger.“ Und so wie dem Tier alles zu seinem Erhalt und zur Erfüllung seines Zweckes gegeben wird, so versorgt Er den Menschen mit allem, was er zum Lebensunterhalt und zur Vervollkommnung seines Zweckes benötigt.
Darum müssen wir begreifen, worin der Vorzug der Menschen – aus der Perspektive ihrer eigenen Vorbereitung gesehen – vor dem Tier liegt. Es ist in der Tat ihren Wünschen entnommen, denn die Wünsche des Menschen sind auf jeden Fall anders als die eines Tieres. Und in dem Umfang unterscheidet sich auch Gottes Rettung des Menschen von der eines Tieres.
Daher finden wir nun nach all den Überprüfungen und Untersuchungen, dass der einzige Wunsch im Menschen, der nicht in der Tierwelt existiert, im Erwachen nach der göttlichen Anhaftung (Dwekut) besteht. Nur die menschliche Spezies ist dazu bereit und keine andere.
Es folgt, dass das gesamte Thema über den Vorzug der menschlichen Art in der Vorbereitung liegt, zur Anhaftung an den Schöpfer zu streben. Und das ist die Erhabenheit gegenüber dem Tier. Und viele sprachen bereits darüber, dass die Intelligenz zum Kunsthandwerk und zur politischen Führung mit großer Weisheit in vielen Elementen in der Tierwelt erkennbar ist.
Demnach können wir nun also das Thema der Abwesenheit, welches vor der Existenz des Menschen war, als Verneinung des Wunsches, dem Schöpfer nahe zu sein, annehmen, was der tierischen Stufe entspricht. Nun verstehen wir die Worte der Mishna: „Es beginnt mit Schande und endet mit Lob.“ Dies hat die Bedeutung, dass wir uns auf positive Weise an das Nichtvorhandensein, welches unserer Existenz vorausgeht, erinnern und es erforschen müssen, was die Schande ist, die dem Lob vorangeht und aus der wir das Lob besser verstehen können – wie geschrieben steht: „Es beginnt mit Schande und endet mit Lob.“
Dies ist auch die Bedeutung unserer vier Exile, ein Exil nach dem anderen, welches den vier Erlösungen – Erlösung nach Erlösung – vorangeht; bis zur vierten Erlösung, welche die komplette Perfektion ist, die wir für unsere nahe Zukunft erhoffen, Amen.
Exil bezieht sich auf „Abwesenheit, welche der Präsenz vorangeht“, welche die Erlösung ist. Und da diese Abwesenheit das ist, welche auf das HaWaYaH Zugeschriebene vorbereitet, wie das Säen, welches auf die Ernte vorbereitet, sind alle Buchstaben der Erlösung (Geula, גאולה) im Exil (Gola, גולה) vorhanden – außer dem Buchstaben Alef, weil dieser Buchstabe auf den „Meister (Aluf) der Welt“ hinweist, wie unsere Weisen sagten.
Dies lehrt uns, dass die Form der Abwesenheit nur die Verneinung der Anwesenheit ist. Und wir kennen die Form der Anwesenheit – die Erlösung – vom Vers „und es wird kein Mensch seinen Nächsten lehren… denn alle werden Mich kennen, von dem Kleinsten bis zum Größten unter ihnen.“
Daher ist die Form der vorherigen Abwesenheit, das heißt die Form des Exils, nur die Abwesenheit des Wissens um den Schöpfer. Es ist die Abwesenheit von Alef, der im Gola (Exil) fehlt und in der Geula (Erlösung) da ist – die Dwekut mit dem „Meister der Welt“.
Dies ist genau die Erlösung unserer Seelen, nichts mehr und nichts weniger, da wir sagten, dass alle Buchstaben von Geula in Gola präsent sind – außer Alef, der der Meister der Welt ist.
Um dieses gewichtige Thema zu verstehen, dass die Abwesenheit an sich diejenige ist, die die ihr zugeschriebene Anwesenheit vorbereitet, sollten wir von dem Verhalten in dieser körperlichen Welt lernen. Wir sehen, dass das Freiheitskonzept, welches ein sehr erhabenes Konzept ist, nur von einigen wenigen Auserwählten erkannt wird, und dass selbst sie angemessene Vorbereitungen dafür brauchen. Aber die Mehrheit der Menschen ist nicht in der Lage, dieses Konzept zu erkennen. Umgekehrt jedoch gleichen sich im Bezug auf das Konzept der Versklavung die Kleinen und die Großen: Sogar die Niedersten unter den Menschen werden das nicht dulden.
(Wir waren Zeugen davon im polnischen Volk, das sein Königreich nur deshalb verlor, weil die Mehrheit den Wert der Freiheit nicht verstand und auch nicht pflegte.
Darum gerieten sie für hundert Jahre unter die Knechtschaft der russischen Regierung. In derselben Zeit litten sie alle sehr unter dem Joch, und vom Kleinsten bis zum Größten versuchte jeder, Freiheit zu erlangen. Und obwohl sie noch nicht den wahren Geschmack der Freiheit erreichten, stellte jeder sich ihn so vor, wie er wollte, doch während sie noch keine Freiheit besaßen – also während der Unterjochung – war der Wunsch, die Freiheit zu schätzen, fest in ihrem Herzen eingeprägt.
Aus diesem Grund befanden sich viele in einem Zustand der Verwirrung, als ihnen dieses Joch genommen wurde, weil sie nicht wussten, was ihnen diese Freiheit gebracht hatte. Manche von ihnen bedauerten es sogar und sagten, dass die eigene Regierung nun noch mehr Steuern als die ausländische Regierung von ihnen verlange, und sie wollten, dass diese wieder an die Macht kam. Und dies, weil die Kraft der Abwesenheit nicht genügend auf sie gewirkt hat.)
Nun ist uns auch der Konflikt zwischen Rav und Shmuel klar. Rav interpretiert die Mishna, welche mit der Schande beginnt, so, dass man später das Maß der Erlösung vollkommen schätzen kann. Darum bestimmt er, mit der Zeit Terachs anzufangen. Und er sagt nicht, was Shmuel sagt, als bereits in einigen Wenigen in Ägypten Seine Liebe und Arbeit innerhalb der Nation eingepflanzt war. Ebenso ist auch die zusätzliche Schwierigkeit der Sklaverei in Ägypten kein Mangel an sich im Leben der Nation, genannt „Adam“.
Und Shmuel interpretiert die Mishna nicht so wie Rav, weil das Konzept von Freiheit des Volkes in der Erkenntnis des Schöpfers ein solch erhabenes Konzept ist, welches nur von einigen wenigen Auserwählten verstanden wird – und von denen auch nur durch die passenden Vorbereitungen dafür; doch hat die Mehrheit des Volkes diese Erkenntnis noch nicht erreicht. Umgekehrt ist das Erkennen der Mühsal der Versklavung uns allen klar, wie es Ibn Esra am Anfang des Abschnitts Mishpatim schreibt: „Nichts ist für einen Menschen schwieriger, als sich unter der Autorität eines ihm ebenbürtigen Menschen zu befinden.“
Und Shmuel erklärt die Mishna damit, dass die Abwesenheit die Anwesenheit vorbereitet, sie als ein Teil Seiner Erlösung betrachtet und ebenfalls mit Dankbarkeit aufgenommen werden sollte. Deshalb beginnen wir nicht mit: „Am Anfang waren unsere Väter Götzendiener“, denn diese Zeit wird nicht einmal als „Abwesenheit, die der Anwesenheit vorangeht“ betrachtet. Dies ist so, weil ihnen jegliche menschlichen Existenz fehlte, da sie absolut weit von der Liebe des Schöpfers entfernt waren.
Daher beginnen wir mit der Sklaverei in Ägypten, als die Funken Seiner Liebe zu einem gewissen Grad in ihren Herzen brannte. Aber aufgrund von Ungeduld und harter Arbeit wurden sie jeden Tag unterdrückt. Dies wird als „Abwesenheit, die der Anwesenheit vorausgeht“ betrachtet, und daher sagt er, man soll mit „wir waren Sklaven“ beginnen.
korrigiert, EY, 22.04.2024
[1] Ungesäuertes Brot, welches die Juden während des Passahfestes essen.