Shamati 241. Rufet Ihn an, wenn Er nahe ist

„Rufet Ihn an, wenn Er nahe ist.“¹ Man muss verstehen, was bedeutet: „wenn Er nahe ist“. Heißt es doch: „Die ganze Erde ist voll Seiner Herrlichkeit.“²
Folglich ist der Schöpfer immer gegenwärtig und nahe – was also meint der Prophet, wenn er sagt: „wenn Er nahe ist“? Daraus scheint zu folgen, dass es Zeiten gibt, in denen Er nicht nahe ist.

Der Sinn ist dieser: Alle Zustände werden stets in Bezug auf den Menschen gemessen, der sie wahrnimmt und empfindet. Wenn der Mensch die Nähe des Schöpfers nicht spürt, so hat diese Nähe für ihn keine Wirkung. Denn alles wird nach dem Empfinden des Menschen beurteilt.
So kann es geschehen, dass ein Mensch die Welt als vollkommene Güte erlebt, während ein anderer, der diese Güte nicht fühlt, von einer Welt voller Leiden spricht. Jeder sieht und bewertet die Wirklichkeit nach dem Maß seiner Empfindung.

Darum mahnt der Prophet: „Rufet Ihn an, wenn Er nahe ist.“ Er will sagen: „Erkennt, dass euer Ruf zum Schöpfer daraus entsteht, dass Er euch nahe ist.“ Das bedeutet: Jetzt habt ihr eine Gelegenheit – wenn ihr aufmerksam seid, werdet ihr Seine Nähe empfinden. Und gerade dieses Empfinden ist das Zeichen Seiner Nähe.

Der Beweis dafür ist der folgende: Man muss wissen, dass der Mensch von Natur aus nicht für eine Anhaftung an den Schöpfer geeignet ist, da dies gegen seine Natur ist. Von Geburt an besitzt der Mensch den Willen zu empfangen, während Anhaftung nur im Geben besteht. Doch weil der Schöpfer den Menschen ruft, entsteht in ihm eine zweite Natur – er will seine egoistische Natur aufheben und sich an Ihn anhaften.

Darum muss der Mensch wissen, dass alles, was er in der Tora spricht oder im Gebet hervorbringt, allein vom Schöpfer ausgeht. Er darf niemals denken: „Meine Kraft und die Stärke meiner Hand hat dies bewirkt.“³ Denn das wäre das genaue Gegenteil von der göttlichen Kraft.

Das lässt sich mit einem Menschen vergleichen, der sich im dichten Wald verirrt hat und keinen Weg sieht, wie er herauskommen und zu seinem Wohnort gelangen kann: Er ist verzweifelt und denkt nicht, dass er jemals wieder nach Hause kommen wird. Sobald er jedoch von Weitem irgendeinen Menschen sieht oder eine menschliche Stimme hört, erwachen in ihm augenblicklich der Wille und die Sehnsucht, dorthin zurückzukehren, wo er herkam, und er wird anfangen zu schreien und zu flehen, es möge jemand kommen und ihn erretten.

So ist es auch mit dem, der vom guten Weg abgewichen und an einen schlechten Ort gelangt ist und sich bereits daran gewöhnt hat, unter „wilden Tieren“ – den Eigenschaften des egoistischen Willens zu empfangen – zu leben. Aus sich heraus wird ihm niemals in den Sinn kommen, dass er zurückkehren müsse an einen Wohnort, an dem der Verstand der Heiligkeit (Daat de Kedusha) wohnt. Doch wenn er die Stimme hört, die ihn ruft, erwacht er zur Umkehr. Und das ist die Stimme des Schöpfers – nicht seine eigene Stimme.

Hat er jedoch seine Handlungen auf dem Weg der Korrektur noch nicht vollendet, kann er nicht empfinden und glauben, dass es die Stimme des Schöpfers war, und meint, es sei „seine Kraft und die Stärke seiner Hand“. Darum warnt der Prophet: Der Mensch soll sich über sein eigenes Urteil und Denken erheben und in vollkommenem Glauben erkennen, dass es die Stimme des Schöpfers ist.

Wenn der Schöpfer ihn aus dem Dickichtdes Waldes herausführen will, zeigt Er ihm ein Licht aus der Ferne; und der Mensch sammelt die Reste seiner Kraft, um auf dem Pfad zu gehen, auf dem ihm das Licht erscheint, um es zu erreichen.
Wenn er dieses Licht jedoch nicht dem Schöpfer zuschreibt und nicht sagt, der Schöpfer rufe ihn, dann geht ihm das Licht verloren, und er bleibt wieder mitten im Wald stehen.

So kommt es, dass er – anstatt jetzt sein ganzes Herz vor dem Schöpfer zu öffnen, damit Er komme und ihn aus dem bösen Ort errette, das heißt aus dem Willen zu empfangen, und ihn an einen Ort des Verstandes (Yeshuv ha-Da’at) bringe, der „Ort der Menschen“ (wörtlich: der Söhne Adams) genannt wird, wie es heißt  „Ich werde dem Höheren gleichen“⁴ (Adame la Eljon), das heißt in den Zustand des Willens zu geben, im verborgenen Sinne von Dwekut (Anhaftung) – diese Gelegenheit ungenutzt lässt und wieder bleibt wie zuvor.

  1. Jesaja 55, 6

  2. Jesaja 6, 3

  3. Deuteronomium 8, 17

  4. Jesaja 14, 14

 

überarbeitet, EY, 26.10.2025

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