Wann bin ich soweit?

Ich beginne. Ich habe das Gefühl, ich bin noch nicht so weit, aber ich bin nie so weit, mein ganzes Leben bin ich nicht so weit, wer sagt mir, wann ich so weit bin? Keiner, also ich beginne mit dieser ersten Begegnung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Seitdem hat mich die Wut begleitet. Diese Frage hat mich plötzlich ergriffen, ich war 13 oder 14 vielleicht schon 15, ich wollte gerade die Straße überqueren, musste warten, bis die Autos vorbeigefahren waren, es war an einer Stelle, wo die Straße eine große Kurve macht, wie bei einer Passstraße.

Ich wartete die Autos ab und dabei hat es mich gepackt: Was soll das Ganze? Verdammt noch mal, was soll ich hier, wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Und die nächste Frage oder Überlegung, wie komm ich hier bloß raus? Dann wurde die Straße frei, ich überquerte sie, ohne eine Antwort, aber mit der Wut auf mein Leben, mit der Wut auf den Sinn, den ich irgendwie spürte, der sich mir aber nicht erschloss. Vielleicht war es einfach eine pubertäre Wut, wie lange dauert so eine Pubertät und vielleicht geben wir diese ungelöste Wut ungehindert weiter an die Kinder und Kindeskinder. Wer war nicht alles wütend in meiner Familie. Gibt es ein Ende der Wut, einen Frieden?

Wer hat schon auf dieses Kind gewartet, frisch nach dem Krieg, die Familie kam durch, die Bombennächte überstanden, die Älteste vor den Soldaten versteckt, den Zweiten 1945 noch zum jugendlichen Deserteur gemacht, der Jüngste hat sich auf die Pimpfe der Hitlerjugend gefreut, aber daraus wurde nichts, dafür bekam er eine kleine Schwester. So war es eben, die Familie nahm es sportlich, ich war immer und überall die Jüngste, ein Mädchen, ein niedliches Attribut bei Bedarf. Das Familienleben hatte bereits stattgefunden, war erstarrt unter dem, was der Krieg entblößt hatte.

Es war die Zeit der Anständigkeit, Deutschland war so anständig, schuldbewusst anständig. Über nichts wurde gesprochen, niemand hat etwas gewusst, der Milchwagen kam morgens um 9.30 Uhr, mittwochs die Müllabfuhr, freitags Obst und Gemüse. Um halb zwölf, wenn meine Mutter noch keine Zeit hatte und ich schon von der Schule zu Hause war, musste ich die Betten von den Fenstern nehmen und die Fenster schließen. Keiner sollte wissen, dass bei uns immer noch nicht die Betten gemacht waren. Manchmal hat sie es noch vor dem Essen geschafft mit dem Bettenmachen, wenn sie erst nach dem Essen dafür Zeit hatte, ja da war der ganze Tag hinüber.

Es war eine Überraschung, als die Wut von mir abfiel, die Wut vermischt mit Angst. Plötzlich war es weg und langsam begreife ich, dass es das einzige war, worum es in meinem Leben ging, was ich wollte, diese Wut loswerden, sie klebte wie Pech an mir, ich war die Pechmarie. Es war wieder nur ein Moment, ich saß im Zentrum am Tisch, wir machten ein paar Sekunden Pause und da löste es sich auf, entfernte sich, als ob nichts gewesen wäre. Es war mein erster Besuch im Zentrum und ohne diese Wut kann ich in Ruhe über die Sinnfrage nachdenken, kann ich überhaupt in Ruhe denken, es hat ein Leben lang gedauert. Jetzt erst kann ich mir die Sinnfrage stellen, ohne darüber wütend zu werden.

C., Kabbalastudentin

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