Der Hüter des Tores

Franz Kafka

Wer ist der Wächter, der am Eingang der spirituellen Welt entscheidet, wer eintreten darf und wer nicht? Eine Reise, bei der wir Kafka, Baal HaSulam, zwei Parabeln und einem Eingangstor folgen. Franz Kafka (1883-1924) ist wahrscheinlich der Schriftsteller, der die ansteigende Hilflosigkeit unseres gegenwärtigen Daseins am besten zum Ausdruck brachte.

Die Welt von Kafka ist dunkel, bedrohend und verdrießlich. Ihre hilflosen und unfähigen Helden irren herum, um ihre Pechsträhnen zu bewältigen (und versagen dabei).

Eine der berühmtesten Geschichten von Kafka ist die „Vor dem Gesetz“, die von einem Mann vom Lande erzählt, der vor dem „Tor des Gesetzes“ sitzt und Eintritt verlangt. Paradoxerweise steht das Tor weit offen, doch ist der Dorfbewohner zu verängstigt, ohne die Erlaubnis des Torhüters hindurch zu gehen. Der Torhüter hat ihn gewarnt, dass es mehrere Torhüter gibt und einer mächtiger als der andere.

Gebrochen durch diese unüberwindlichen Hindernisse trifft der Mann vom Lande die typische Kafka Entscheidung, vor dem Tor zu sitzen und zu hoffen, irgendwann einmal hindurchzugehen. Ab und zu macht er vergebliche Versuche, den Hüter zu überzeugen, ihn einzulassen, besticht ihn und fleht ihn an. Aber die Jahre vergehen, der Dorfbewohner wird alt und er wartet immer noch.  

An seinem Lebensabend ergreift der Mann vom Lande die Gelegenheit und fragt den Torhüter: «Alle streben doch nach dem Gesetz», sagt der Mann, «wie kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?» Der Torhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: «Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe es.»

Das Tor, welches die Antworten verhüllt.

Das Verlangen, durch das „Tor des Gesetzes“ zu schreiten, das System der Kräfte zu entdecken, welche unser Leben lenken, ist nicht neu. Die Menschen haben schon immer nach der  Entdeckung der verborgenen Gesetze des Universums gesucht, versucht sie zu kontrollieren und für ihren persönlichen Vorteil zu verwenden. Im 21sten Jahrhundert hat dieses Verlangen neue Höhen erreicht. Wir haben Raketen in den Weltraum geschossen, sind auf dem Mond herumspaziert, haben ein weltweites Kommunikationsnetzwerk geschaffen und unzählige Maschinen und Instrumente entwickelt. 

Dennoch tappen wir im Dunkeln darüber, was denn eigentlich unsere  spirituelle Natur, unser Wesen und unser Zweck hier ist. Wir haben immer noch keine Antworten auf unsere tiefschürfenden Fragen wie: Wer lenkt unser Leben? Was ist der Ursprung unserer Wirklichkeit? Was bedeutet dies alles? Und genauso wie der Mann vom Lande fühlen wir oft, dass wir von einem unbekannten Gesetz gelenkt werden, das noch keiner so richtig entschlüsselt hat.

Wer ist also dieser Torhüter und warum verweigert er uns den Eintritt?

In seiner Einführung zu seinem Werk Talmud Eser Sefirot (Das Studium der Zehn Sefirot) deutet Baal HaSulam mit Hilfe einer Parabel, die an die Geschichte von Kafka erinnert, die Antwort an:„Es ist eher wie ein König, der all seine geliebten Getreuen auswählen will und sie in seinen Palast bringen möchte… Diesen hat er jedoch viele seiner Wächter entgegengestellt, um das Palasttor und alle Straßen, die zu ihm führen, zu bewachen. Er befahl, alle sich Nähernden listig irrezuführen und sie vom Weg abzubringen…

Es ist offensichtlich, dass alle Menschen, die auf den Königspalast zueilten, von den wachsamen Wächtern ganz schlau zurückgewiesen wurden. Viele von ihnen überwältigten die Wächter und näherten sich dem Eingang des Palastes. Aber die Wachtposten passten sehr gut auf und vertrieben jene, die mit viel List näher kamen, bis sie verzweifelten und wieder umdrehten. So kamen und gingen sie wieder, sammelten neue Kräfte und kamen wieder; so ging es weiter, bis sie des Spiels überdrüssig wurden.

Anfänglich ist es schwer zu verstehen, was der König vorhatte: Wollte er denn wirklich jene, die ihn liebten, in den Palast bringen? Seine Handlungen beweisen genau das Gegenteil, denn wenn er wirklich gewollt hätte, dass sie zu ihm kämen, wäre es doch einfacher gewesen, das Tor offen zu lassen und alle hereinkommen zu lassen? Dieses Dilemma wird später in der Parabel gelöst, wenn wir erfahren, dass dies die List des Königs war, herauszufinden, wer wirklich in seinen Palast möchte:

„Und nur die Mutigen, die geduldig genug waren und die die Wächter überwältigten, wurden sofort  würdig, vom König willkommen geheißen zu werden.. und sie brauchten sich selbstverständlich von dem Moment an nicht mehr den Wächtern zu stellen, da sie dadurch belohnt wurden, dass sie im wundervollen Licht der Gegenwart des Königs dienen und anwesend sein durften.

Der Schlüssel  

„Der Königspalast ist nicht irgendein wunderschönes Versteck voller Kostbarkeiten und Juwelen. Laut den Kabbalisten stellt er eine neue Wahrnehmung unserer Wirklichkeit dar, wenn alle unsere Verlangen von dem allumfassenden spirituellen Gesetz – des vollkommenen Geben – gelenkt sind. Wenn wir diese Eigenschaft des Gebens in uns entdecken und über die egoistischen stellen, dann werden wir herausfinden, was Baal HaSulam sinnbildlich gesehen „das herrliche Licht der Gegenwart des Königs“ nennt, welches unsere Verlangen mit unendlicher Reichhaltigkeit erfüllt.

Aber außerdem werden wir feststellen, dass uns dieses verhüllte Gesetz schon immer beeinflusst hat, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst waren. Und genau dann öffnet sich das spirituelle Gesetz weit vor unseren Augen.

Wer sind nun diese Wächter, die wir auf dem Weg zum Königspalast, zur Eigenschaft des Schöpfers -des Gebens – überwältigen müssen? Sie sind unsere egoistischen Wünsche. Im Gegensatz zu dem, was wir vielleicht denken mögen, müssen wir unsere egoistischen Wünsche nicht eliminieren. Stattdessen müssen wir lernen, wie wir unseren ureigensten egoistischen Willen, mit dem wir geboren wurden, mit der Absicht zu Geben verwenden. Wir müssen eine neue Absicht erlangen – des Liebens und Gebens – dies wird die Art, wie wir mit unseren Verlangen umgehen, verändern.

Der Weg

So wie der Mann vom Lande in der Geschichte von Kafka, denken wir vielleicht manchmal, dass, wenn wir lange genug warten oder stark genug bitten, sich das Tor von selbst öffnen würde. Aber die Kabbalisten sagen uns, dass alles von uns abhängt und nur wir unsere inneren Wächter überwältigen müssen mit der Methode, die sie uns für die innere Verwandlung und Entwicklung gegeben haben.

Im Gegensatz zu Kafkas pessimistischer Geschichte bringt uns das Gleichnis von Baal HaSulam große Hoffnung auf Veränderung. Kabbalisten, die erfolgreich durch dieses Tor gelangten, erzählen uns, dass die Wirklichkeit auf der anderen Seite völlig entgegengesetzt zu der Kafkawirklichkeit und der Wirklichkeit in unserer Welt ist. Dort entdecken wir eine vollkommene, ewige Wirklichkeit, die nur von einem Gesetz regiert wird, dem Gesetz der Liebe.

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