Schutz oder Freiheit

Mit großem Kummer beobachte ich die aktuelle Spaltung unserer Gesellschaft. Ich sehe auf der einen Seite Gegner der Maßnahmen und auf der anderen Seite deren Befürworter. Sogar diese beiden Parteien können nicht korrekt benannt werden, ohne sie zu bewerten. Man könnte sie auch unterteilen in: diejenigen, die für den Erhalt der Grundrechte sind und in diejenigen, die für die Einschränkung plädieren.

Aber es ist vollkommen egal, welche Worte wir wählen. Fakt ist, dass zwei Lager bestehen. Und die gegenseitige Anfeindung verstärkt sich im rasenden Tempo. Es wird verurteilt, beleidigt, denunziert. Kein noch so schlimmes Wort wird sich verkniffen und alle Hemmungen schwinden gleichzeitig mit dem abnehmenden Respekt gegenüber dem anderen. 

Ich kann nur noch ungläubig den Kopf schütteln und mich fragen: Wieso geschieht das alles und wie können wir uns wieder neu begegnen? Ist es überhaupt noch möglich oder ist tatsächlich alles verloren? Wo ist unser Anstand und wo sind all unsere Werte geblieben? Gab es sie jemals? Wenn ja, dann wäre das alles doch gar nicht möglich. Was ist nur passiert und wohin führt uns all das Ganze?

Fragen über Fragen geistern mir ständig durch den Kopf. Natürlich ist es einfach, eine Seite zu wählen und die andere mit allen Mitteln zu bekämpfen, wenn es nötig ist. Doch welche Seite ist die richtige und wieso muss man sich überhaupt für eine entscheiden. Leben wir nach dem Motto: Wenn du nicht für mich bist, dann bist du gegen mich? 

Betrachten wir uns doch mal beide Lager etwas näher. Die einen wollen Freiheit, jetzt. Die anderen wollen die Freiheit auch, nur denken sie, dass sie kommt, wenn die Krise überwunden ist. Die einen fürchten eine komplette Einschränkung ihrer Rechte, für die anderen könnte es ein sicherer Rahmen sein, um keine Angst haben zu müssen. Die einen wollen alles selbst bestimmen, die anderen fürchten sich vor Entscheidungen, um keine Fehler zu begehen. Wer hat jetzt Unrecht und wer ist im Recht?

Wenn wir noch genauer hinsehen, erkennen wir, dass von all dem auch etwas in uns selbst existiert. In einem Moment möchte ich ausbrechen, aus dem ganzen System, doch im nächsten sitze ich wartend, dass “später” alles besser wird. Oft fühle ich mich vom Gesetz unfair behandelt, doch hätte ich Angst in einer Stadt zu leben, in dem die Polizei der Gewalt nicht Herr wird. Ich habe auch oft Probleme damit, mir von anderen etwas sagen zu lassen und ein anderes Mal fällt es mir schwer, eine Entscheidung zu treffen. Und trotz all den vielen Widersprüchen ist all das in mir. Das alles bin ich.

Alles, was wir im Außen betrachten, ablehnen, bejahen, verurteilen, beschönigen, ist auch in uns. Und das einzige Problem ist, dass wir es nur unterschiedlich empfinden und damit auch unterschiedlich bewerten. 

Wenn wir also ängstliche Menschen sehen, sehen wir die Angst in uns. Wenn wir rebellische Menschen sehen, sehen wir unseren eigenen Wunsch nach Rebellion. Aber wir können entscheiden, wie oder ob wir es bewerten und ob wir das, was uns abstößt,  als unseren eigenen Teil integrieren wollen. 

Wenn wir uns also dafür entscheiden, dann müssen wir auch niemanden mehr beleidigen, weil wir uns dann selbst beleidigen und einen Teil von uns ablehnen. Und wenn wir uns gegenseitig zuhören und alle Teile annehmen, werden wir verstehen, dass sie alle ihren Zweck erfüllen. Dann können wir uns einigen und zu gemeinsamen Lösungen gelangen, die für alle gleichermaßen gültig sind und uns Schutz und Freiheit garantieren.

Wir werden nicht mehr von unserem egoistischen Wunsch getrieben und die anfängliche Ablehnung, der Hass und das Unverständnis dem anderen gegenüber werden Verständnis und Nähe weichen. Nur durch diese gegenseitigen Zugeständnisse können wir zum Gleichgewicht der Gegensätze gelangen und damit Frieden und Liebe offenbaren. Wir können dann immer noch verschiedener Meinung sein, doch lehnen wir sie nicht mehr ab und sehen sie als Teile eines größeren Ganzen.

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