Ursprung der Kabbala – woher kommt sie?
Von Dr. Michael Laitman
Das Thema der Herkunft und des Zeitpunkts der Entstehung der Kabbala ist eines der schwierigsten in der Geschichte dieser tiefgreifenden Wissenschaft. Alle, die sich jemals damit befasst haben, sind sich darin einig, dass sie Gegenstand ständiger Kontroversen ist.
Meinungen sowohl derjenigen Wissenschaftler, die Kabbala als eine neue Schöpfung sehen und deren Entstehung im 12.-13. Jhd. vermuten, als auch derjenigen, die Kabbala als eine viel ältere Erscheinung einstufen, sind legitim und durchaus nachvollziehbar, weil sie sich auf unterschiedlichen Herangehensweisen an die Erforschung der historischen und literarischen Hauptwerke der Kabbala begründen. Die Frage nach der Richtigkeit der einen oder der anderen Meinung ist praktisch unlösbar, weil der in Frage kommende Entstehungszeitpunkt weit vor den Epochen liegt, für die wir noch eine lückenlose Chronologie entwickeln könnten
Ursprung
Erste kabbalistische Kenntnisse wurden schon ungefähr vor 5700 Jahren an einen Menschen namens Adam übermittelt, einem von vielen Menschen, die auf der Erde lebten. In ihm entwickelte sich ein Wille zur Erkenntnis des Höchsten, die er schließlich erlangte. Der nächste Mensch war Abraham, den wir bereits erwähnten, der sich ebenfalls auf die Suche machte und dank seinem Streben die spirituellen Welten erkannte.
Eine Überlieferung, an die sich die Kabbalisten selbst halten, besagt, dass die Kabbala als eine Wissenschaft vom umgebenden Universum ihren Anfang in der antiken Stadt Mesopotamien in Ur Kasdim nahm. Die Überlieferung dieser Zeit berichtet von der Geschichte eines Bewohners des Landes zwischen zwei Flüssen, Abraham, der als erster die Abhängigkeit der Wahrnehmung der Umgebung von der bewussten Entwicklung eines neuen sechsten „Sinnesorgans“ erforschte.
Abraham war der erste Kabbalist, der erste Mensch, der hinter den Einflüssen unterschiedlicher manifester Kräfte, die auf jeden Menschen einwirken, eine einzige, alles bestimmende Kraft enthüllt hat.
Sein Vater (die Vorstufe, der vorherige Zustand von Abraham) war Terach – „der an viele Götter Glaubende“. Abraham löste sich von diesem Glaubenssystem, denn er erkannte, dass es eine Stufe darüber gibt – die Stufe des einzigen Schöpfers. Zu Beginn ging er von einer Vielzahl wirkender Kräfte aus, bis er diese Schicht durchdrang und erkannte, dass alle Kräfte auf eine einzige ursprüngliche Kraft zurückzuführen sind. Diese bezeichnete er als den Schöpfer. Er enthüllte sie und begann, in einen inneren Kontakt mit dieser Kraft zu treten. Die Wissenschaft von der Erkenntnis, von der Enthüllung der einen, einzigen Kraft durch die Vielfalt unterschiedlicher Kräfte, deren Wirkung der Mensch an sich verspürt, bezeichnete er als die Wissenschaft der Kabbala. Er gab die Grundlage dieser Wissenschaft an uns weiter, damit wir mit deren Hilfe unsere Wurzeln und unser eigentliches Wesen erkennen.
Der nächste große Kabbalist war Moshe (Moses), der die Wahrnehmung des Schöpfers erreichte und seine Erkenntnisse in einem Buch niederschrieb, welches er Tora nannte – das Pentateuch oder die Bibel. Zur Beschreibung seiner spirituellen Eindrücke verwendete er die Sprache der Kabbala – die Sprache der Zweige, die auf der Analogie unserer Welt zu ihren Wurzeln in der Höchsten Welt aufbaut.
Da alles in unserer Welt aus Kräften hervorgeht, die aus der Höchsten Welt herabsteigen, gleicht jedes Objekt, jede Handlung und jede Erscheinung in unserer Welt einem Zweig, der aus der Höchsten Welt erwächst. Moses bediente sich der Bezeichnungen der Objekte und Handlungen unserer Welt, um durch sie Objekte und Handlungen der Höchsten Welt zu beschreiben. Äußerlich stellt sich seine Beschreibung wie eine Erzählung über unsere Welt dar, jedoch verbirgt sich hinter den Worten unserer Welt die Beschreibung der Höchsten Realität. Und nur derjenige, der sich in der Empfindung der Höchsten Welt befindet, ist fähig, die Erzählung von Moses richtig aufzunehmen. Dann entstanden weitere kabbalistische Werke.
Bücher
Der babylonische Talmud (Beginn u. Z.) ist ein Buch, welches die Gesetze der Höchsten Welt in Form von juristischen Gesetzen unserer Welt beschreibt. Gesetze, die im Talmud beschrieben werden, berichten, wie es uns scheint, vom Verhalten des Menschen in unserer Welt. Das ist jedoch nur die äußere Form des Textes. Kabbalisten erkennen im Text des Talmud eine akribische Beschreibung der Höchsten Welt.
Zur Beschreibung der Höchsten Welt werden ebenfalls Stilmittel wie Erzählungen und Prophezeiungen angewandt. Für einen Kabbalisten ist es unerheblich, in welcher Sprache das Buch vom Höchsten verfasst ist. In jedem Fall empfindet er, während er es studiert, das vom Autor Beschriebene, genauso wie ein Musiker, der Musik hört, wenn er Noten liest.
Grundsätzlich gibt es nur ein kabbalistisches System, das den Prozess der menschlichen Korrektur beschreibt. Alle kabbalistischen Bücher reihen sich darin ein. Die prägnantesten sind das Buch Sohar, die Bücher von Ari (Ez Chaim – Baum des Lebens) und die Bücher von Baal HaSulam (Talmud Esser HaSefirot). Sie weisen keinerlei Widersprüche untereinander auf. Diejenigen, die in die spirituelle Welt eintreten, verstehen diese für uns unzugänglichen Zusammenhänge.
Tradierung des Wissens
Warum traten solche Menschen wie Abraham und die nachfolgenden Kabbalisten auf? Sie erschienen aus dem Grunde, weil diese Kenntnisse von Generation zu Generation tradiert werden mussten. Kabbalisten vollführten im Verlauf der ganzen Menschheitsgeschichte große innere Arbeit an sich, an ihrem Verhältnis zur Wahrnehmung der Welt und an ihrem Eintritt in die Höhere Welt. Außerdem wurde die Methodik von Generation zu Generation weiterentwickelt und perfektioniert.
Wir können heute nicht mehr genau nachvollziehen, auf welche Weise die Vermischung jener ersten Kabbalisten mit dem Rest der Menschheit geschah. Es ist kein Zufall, dass die Kenntnisse der Kabbala sich gerade heute enthüllen – sie nehmen Einfluß im Laufe der ganzen Menschheitsentwicklung. Sie verschwanden und existieren nun noch schlummernd (unerweckt) im Punkt des Herzens der Menschheit. Jetzt werden sie allmählich ans Tageslicht treten. Andernfalls gäbe es keinen Fortschritt: weder einen technischen, einen seelischen noch einen moralischen oder wissenschaftlichen. Alles entwickelt sich ausnahmslos aus diesem Punkt im Herzen.
Verbreitung
Die Methodik der Entwicklung eines neuen Aufnahmeorgans bekam den Namen Kabbala und begann, sich unter den Nachkommen und Schülern Abrahams zu verbreiten. Im Laufe der Zeit wuchs die Gruppe auf die Größe einer Volksgruppe an – um die 3 Millionen Menschen. Weil man ihr nicht aufgrund der Herkunft angehörte, sondern aufgrund der Anwendung dieser speziellen Methodik, konnte man sie nicht als ein „Volk“ nach den herkömmlichen Definitionen eines Volkes ansehen. Es war eine kabbalistische Gruppe, das heißt eine Gruppe derer, die das erforschten, was sie im “sechsten Empfindungsorgan“ erkannten und fühlten. Die Gruppe begann, sich als das Volk Israel zu bezeichnen, nachdem sich die Empfindungen im sechsten Sinnesorgan bei allen Mitgliedern der Höchsten Kraft angeglichen hatten. Diese kabbalistische Gruppe schulte von Beginn an auch die Nachkommen in der zusätzlichen Wahrnehmung der Höheren Realität .
Dieser Prozess setzte sich fort, bis zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, als augenblicklich in der ganzen Gruppe die Wahrnehmung des Höheren entschwand. Bis zu diesem Augenblick stellte das Volk eine Gruppe dar, die ausgehend von den Wahrnehmungen der Höchsten Welt lebte. Aber nach dem Verlust dieser Wahrnehmung nahm die kabbalistische Gruppe den Status eines gewöhnlichen Volkes an. Sie hörte auf, als eine Gruppe zu leben und zerstreute sich über die ganze Welt. In Abwesenheit der Wahrnehmung der kompletten Realität begann die einstige Gruppe von Kabbalisten, statt der geistigen Handlungen deren physische Interpretation zu praktizieren, und sich für diese Handlungen weiterhin der Bezeichnungen geistiger Handlungen zu bedienen (Gebote).
Alles, was wir über die Höchste Welt wissen, noch bevor wir sie selbst erkennen, wird uns von Menschen zugetragen, die sie selbst erfahren haben. Sie beschrieben uns ihren Weg, ihre Empfindungen, ihre Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Sie wurden an uns weitergegeben, um Ihnen nachzufolgen. Ihre Beschreibungen der Reisen in die Höchste Welt sind kabbalistische Bücher, entstanden noch zu Zeiten von Abraham und der kabbalistischen Nachfolge.
Entstehung der Religionen
In jeder Generation sind Kabbalisten notwendig. Es ist erforderlich, dass sie in jeder Generation eine ihr entsprechende kabbalistische Methodik entwickeln, weil sie durch diese Arbeit und durch diesen Prozess ihre Generation beeinflussen. Rabbi Shimon tauchte zum Zeitpunkt der Zerstörung des zweiten Tempels auf, als der weltweite Egoismus anwuchs (zur Entwicklung des Egoismus kommen wir gleich). Zum selben Zeitpunkt entstanden Keimzellen aller Religionen – ohne Kabbala wären sie nicht entstanden. Sie entstanden nur aus dem Zusammenbruch der Kabbala: sowohl die jüdische als auch die christliche und die muslimische Religion. Sie sind Folge der Zerstörung des allgemeinen Schirms.
Sprache der Kabbala
„Sfat Anafim“ – die Sprache der Zweige, die von Kabbalisten benutzt wird, unterteilt sich in einige Sprachen: die Sprache des Tanach (der Heiligen Schrift), die Sprache der Gesetzgebung, die Sprache der Erzählungen und die Sprache der Kabbala. Die Sprache der Kabbala ist eine äußerst exakte Sprache. Sie ist erst den Menschen in vollem Umfang zugänglich, die sich bereits in der höchsten Welt befinden – es ist die Sprache der Wissenschaftler, das heißt, derjenigen, die über entsprechende Kelim verfügen und die höchste Welt fühlen und erforschen. Dementsprechend können sie diejenigen verstehen, die Texte in dieser Sprache verfasst haben. Alle übrigen Sprachen sind Sprachen, die ebenfalls die höchste Realität beschreiben, nur in anderen Worten.
Wenn man sich weiterentwickelt, so ändert sich natürlich auch die notwendig gewordene Sprachform. Dann genügt dem Menschen nicht mehr die Sprache des Tanach – es wird schon die Sprache der Gesetze (Halachot), dann schon die Sprache der Erzählungen (Hagadot) herangezogen. Hier nutzt man alle diese Sprachen gemeinsam.
Dann beginnt der Mensch bereits zu fühlen, dass ihn die Sprache der Kabbala mehr anzieht, und dass er dem nicht entkommen kann. Was alle anderen Sprachen angeht, so versteht er nicht, wie man sich ihnen widmen kann – sie sind nicht genau, und obwohl sie vom Spirituellen sprechen, kann man unmöglich verstehen, was sie damit meinen, sie „verwirren“ einen Menschen. Er will spirituelle Objekte erkennen und stattdessen liefern ihm diese Sprachen eine Menge an Bezeichnungen und Worte aus unserer Welt. Im Endeffekt kommt er durcheinander, weil er die höchste Welt noch nicht fühlt und fällt wieder in das Verständnis der ganzen Tora als Erzählungen und Geschichten zurück.
Welchen Gewinn bringen diese Sprachen? Sie entwickeln die Menschen, so wie das Kind sich durch Spiele entwickelt. Je mehr sich die Menschheit in ihrer Entwicklung ihrer letzten, richtigen Form annähert, desto mehr wird sie die Notwendigkeit der klaren Sprache der Kabbala enthüllen – soweit, dass sie sogar die Sprachen der Heiligen Schrift (des Tanach), des Talmud und der Erzählungen vernachlässigen wird.
Die Sprache der Erzählungen ist überhaupt eine sehr komplizierte. Sie ist natürlich sehr reich an Bildern, ist aber ohne den Zugang zu der spirituellen Ebene vollkommen unklar. Man muss ein sehr großer Kabbalist sein, um beim Lesen der Erzählungen (Hagadot) deren inneren Sinn zu erfassen.
Im weiteren Verlauf der Entwicklung werden wir sehen, dass sogar solche Artikel oder Briefe von Baal HaSulam einer Kommentierung bedürfen. Sie sind in die exaktere Sprache der Kabbala zu übertragen.
Im Laufe des Lebens eines Menschen wird offenkundig, dass alle kabbalistischen Werke sich auf ihren endgültigen exakten Ausdruck hinbewegen – der Sprache der Kabbala. Damit entwickelt sich der Mensch, und sein Bedürfnis entwickelt sich entsprechend gemäß einer bestimmten Darlegungsform des Wissens. Er verlangt dann nach einer exakten, klaren Darlegung in Form von Formeln und Grafiken – in ihnen wird er Liebe als auch Hass fühlen, das gesamte Spektrum der Gefühle. All das muss in konzentrierter Form, entsprechend seiner inneren Kelim ausgedrückt werden. Er nimmt die Höchste Kraft nur in dem Ausmaß wahr, wie er sein inneres System mit deren Eigenschaften in Übereinstimmung bringt.
Entwicklung des Egoismus – eine notwendige Etappe der Entwicklung der Menschheit
Entsprechend dem in der Menschheit zunehmenden Verlangen, sich mit immer größerem Genuss zu füllen, oder wie die Wissenschaft der Kabbala sagt, entsprechend dem von Generation zu Generation wachsenden Egoismus, strebt die Menschheit danach, sich mit dem Erwünschten zu füllen. Und das bestimmt unseren Fortschritt, die Veränderung der Staatsform, der gesellschaftlichen Beziehungen, den Stand der technischen Ausrüstung, der kulturellen Entwicklung usw..
Unsere gesamte Geschichte begann mit der Entstehung des Menschen und mit dem Aufkommen des egoistischen Willens zu Empfangen der Stufe 0 (Stadium, Breite, Tiefe) im Menschen. Das ist ein sehr schwacher Wunsch – in ihm nimmt der Mensch lediglich den Antrieb zu rein physischen Genüssen wahr, zu solchen, wie auch ein Tier sie hat: Familie, Sex, Essen, eine begrenzte Umgebung. In diesem Willen, in diesem Wunsch, entwickelte sich die Menschheit im Laufe von Tausenden von Jahren.
Dann, je egoistischer der Wille zu Empfangen wurde, desto kleiner wurde auch die Zeitspanne, in der er sich verwirklichte und durch einen anderen ersetzt wurde. Auch in unserem Leben beobachten wir, mit was für einer riesigen Geschwindigkeit sich alles verändert, während es vor einem Jahrhundert noch um Jahrzehnte länger gedauert hätte.
Als der Mensch aber begann, von seinen physischen Wünschen auf höhere überzugehen, begann er, die Etappen des Begehrens nach Reichtum, Ehre, Macht und Wissen zu durchlaufen, bis er den Wunsch nach dem Höchsten erreicht hat, die Entwicklung des Egoismus der letzten Stufe. Folglich wechseln sich
- körperliche Wünsche und Wünsche nach
- Reichtum
- Ehre, Macht,
- Wissen,
- Spiritualität
im Laufe der ganzen Geschichte der Menschheit ab.
Und so durchläuft die Menschheit heute eine Etappe, von der die Kabbalisten seit Anbeginn der Entwicklung der Wissenschaft der Kabbala (um das 18. Jhd. v. Chr.) sagen, dass ungefähr ab dem Jahre 1995 die Menschheit einen inneren Drang zur Höchsten Erfüllung verspüren wird, weil der Mensch im Allgemeinen alle seine vorherigen Wünsche ausgeschöpft haben wird. In seinen aufeinanderfolgenden Reinkarnationen wird er durch alle Etappen der Entwicklung des eigenen Egoismus gegangen sein, und obwohl auch in ihm alle vorhergehenden Wünsche gemischt existieren werden, wird der Wunsch nach dem Höchsten beginnen, die anderen zu dominieren: der Mensch wird zu fühlen beginnen, dass er keine Befriedigung von der Erfüllung aller anderen Wünsche verspürt.
Im Buch Sohar (2. Jhd. n. Chr.) steht, dass die Menschheit am Ende ihrer Entwicklung zu einer Schlussfolgerung gelangen wird, dass die Höchste Welt das Gebiet sei, wo wir existieren sollen. Warum konnten wir nicht früher zu diesem Schluss kommen und beginnen erst heute, einen solchen Wunsch wahrzunehmen? Diese Möglichkeit, sich zu entwickeln, beginnend mit dem anfänglichen egoistischen Wunsch, existierte noch lange bevor das Buch Sohar verfasst wurde, in der Epoche der antiken Philosophen – im 10. – 8. Jhd. v. Chr. ff. Aber aus einer Reihe von Gründen konnte die Wissenschaft der Kabbala den antiken Völkern nicht zu jedem Zeitpunkt deren Wachstums die Notwendigkeit der Berichtigung des Egoismus aufzeigen.
Auch die Philosophen der Antike studierten zwar die Kabbala, aber sie nahmen sie nicht als eine Methode der praktischen Korrektur der menschlichen Natur auf, und die Welt setzte fort, sich nur kraft des eigenen unkorrigierten egoistischen Wunsches zu entwickeln. Auch im Buch Sohar selbst wurde bereits klar gesagt, dass das Buch vor der Menschheit verborgen bleiben wird, bis zum Ende des 20. Jhd., wenn der menschliche Egoismus eine solche Entwicklungsstufe erreicht, dass der Mensch von seiner selbstzerstörerischen Kraft überzeugt sein wird. Aber andererseits wird der Mensch nichts in der Welt finden, was seinen Egoismus füllen könnte. Diese beiden Empfindungen werden den Menschen zwingen, auf die Ratschläge der Wissenschaft der Kabbala zu hören.
Die Naturwissenschaften lehren uns, dass jede Zelle und der ganze Organismus sich im Gleichgewicht mit der Umgebung befinden sollen, um zu leben, zu existieren und sich zu entwickeln. Sie müssen dem Prinzip der Homeostasis (Gleichheit/ Gleichmäßigkeit) entsprechen. In dem Maße, wie dieses Gleichgewicht nicht eingehalten wird, empfindet der Körper Unbehagen, bis hin zu seinem Tod.
Aus diesem Prinzip wird uns klar, dass die Aneignung der Kenntnisse über die Höchste Welt außerhalb von uns – nicht in unseren physischen Empfindungen, sondern wie sie außerhalb von uns wirklich ist – uns die Möglichkeit gibt, ihr zu entsprechen, und so den besten Zustand zu erreichen.
Von hier wird auch die Logik in der Entwicklung des Willens ersichtlich: Warum ist der Wunsch, der Wille zur Macht der höchste von allen irdischen Wünschen und warum steht er dem Willen zum Höchsten voran? – weil er zum Willen nach Erkenntnis der Höchsten Welt führt, indem er dem Menschen zeigt, dass er anders nicht überlebt. Denn die Kenntnis der Natur und der Gesetze der Höchsten Welt und ihrer Funktionsweise, wird es der Menschheit erlauben, die auf uns wirkenden Naturgesetze kennenzulernen, von denen wir heute nichts wissen. Und wenn wir uns mit ihnen in Homeostasis, im Gleichgewicht begeben, werden wir die beste Form der menschlichen Existenz erlangen.
Wenn wir diese höhere Information erhalten, wird eine der wichtigsten Folgen davon sein, dass der Begriff „Zeit“ verschwindet und sich demzufolge ein absolutes Wissen der Zukunft einstellt, sodass sie so offensichtlich wird wie die Gegenwart und wir unsere Geschicke vollkommen beherrschen.
Die Wahrnehmung der Welt baut sich aus der Verbindung folgender Einflüsse im Menschen auf:
- Des unveränderlichen Gesetzes des absoluten Gebens
- Des sich zur Ähnlichkeit mit der Höchsten Schöpfungskraft hin Verändernden.
Folglich hat die Höchste Kraft, die in allem vollkommen ist, den Menschen in ihrer würdigen Pracht erschaffen, im Gleichgewicht mit den eigenen Eigenschaften, denn wenn sie vollkommen ist, ist sie nicht in der Lage, Unvollkommenes zu erschaffen. Daher zwingt uns der Verstand, etwas zu begreifen und anzunehmen, was der Beobachtung widerspricht, und zu entscheiden, dass wir tatsächlich vollkommene, ewige, majestätische Geschöpfe sind, der Höchsten Kraft würdig, die uns erschaffen hat.
Und mehr als das, alle großen Eigenschaften müssen sich ausgerechnet in unseren niedrigsten und nichtigsten heutigen Eigenschaften zeigen, und daher müssen wir nur auf den Endpunkt der Handlung schauen, und nur von ihm ausgehend können wir den ganzen Sinn unserer Erschaffung begreifen.
Außerhalb des Menschen gibt es nur das so genannte Höchste Licht – die Höchste Kraft. Dieses Licht ist eins, einzig, homogen – in ihm gibt es nichts und alles, was vom Menschen wahrgenommen wird und ist die Folge der Reaktion seiner Eigenschaften auf die äußere unveränderliche Einwirkung. Indem der Mensch seine Eigenschaften verändert, verspürt er die Veränderung seiner Umgebung, obwohl alle Veränderungen nur in ihm stattfinden. Das bedeutet, dass die Realität nur eine Kopie, eine Abbildung der inneren Eigenschaften eines Menschen ist.
Wenn sich der Mensch in seiner Eigenschaft des Gebens der äußeren Höchsten Kraft angleicht, dann empfindet er sich selbst außerhalb der Grenzen der eigenen Wünsche, unabhängig von Leben und Tod des Körpers, von Zeit, Raum und Bewegung. Die Wissenschaft zeigt sich bereit, diesen Ansatz zu akzeptieren. Deshalb kommt ausgerechnet in unserer Zeit die über Jahrtausende vergessene Wissenschaft der Kabbala hervor.
Die Wissenschaft der Kabbala bietet uns an, uns nicht mit den irdischen Eigenschaften des Menschen zu beschäftigen, weil man sie nicht durch direkte Einwirkung verändern kann, obwohl es genau diese Unterscheidung unserer Eigenschaften von denen des Höchsten ist, die das Gefühl des Leidens in uns hervorruft.
Kabbala schlägt Folgendes vor: Wenn der Mensch die Stufe der Höchsten, vollkommenen Existenz erreichen will, soll er in sein Inneres das Höchste Gesetz des Gebens kopieren, damit das äußere und das innere Gesetz sich angleichen und übereinstimmen.
Historisch gesehen widersprechen wir im Laufe unserer Entwicklung immer mehr dem Höchsten Gesetz des Gebens, weil der egoistische Wille das Wachstum von Stadium 0 bis hin zum vierten Stadium durchläuft. Solange wir uns im Stadium 0, im ersten oder zweiten Stadium befinden, sind wir noch nicht so extrem gegensätzlich zu ihm. Aber wenn wir das dritte und das vierte Entwicklungsstadium des Egoismus erreichen, wie es in der heutigen Zeit geschieht, dann treten wir in eine völlige Gegensätzlichkeit zur Höchsten Kraft ein und empfinden noch größere Leiden als in der Vergangenheit, wobei diese Leiden einer viel höheren Ordnung sind – Depressionen, Orientierungslosigkeit, Ratlosigkeit und Existenzängste.
Diese Gegensätzlichkeit zur Höchsten Kraft zeigt sich in allen Lebensbereichen des Menschen und der Gesellschaft: Zerfall der Familie, Drogenabhängigkeit und Alkoholismus, Depressivität, Mangel an Erziehungsmethoden, Orientierungslosigkeit in der Wirtschaft und in der Politik – wir befinden uns auf einer hohen Stufe der Entwicklung, die dem vierten Stadium, der vierten Etappe der Entwicklung des Egoismus entspricht, und treten in starke Gegensätzlichkeit zu dem uns umgebenden Höchsten Licht. Es ist sozusagen die Entwicklung selbst, die uns in eine Situation bringt, in der wir nicht die Wahrnehmung der Wirklichkeit in uns, sondern uns selbst gegenüber der äußeren Wirklichkeit verändern sollen.
Die modernen Wissenschaftler bemerken in ihren Artikeln genau so eine ausweglose Situation in allen Bereichen der Wissenschaft. In einer solchen Zeit, sagt das Buch Sohar, wird die Wissenschaft der Kabbala notwendig, und diese muss zur allgemeinen Wissenschaft der Menschheit aufsteigen, weil sie es gestatten wird, ein Gleichgewicht mit der Höchsten Kraft und Ähnlichkeit mit ihr zu erreichen.
Die Wissenschaft der Kabbala erlaubt es dem Menschen, das Eine, Allgemeine, Einzige Gesetz der ganzen Welt kennenzulernen, in dem als Komponenten alle anderen Gesetze existieren. Man kann es als das „Gesetz eines einheitlichen Feldes“ bezeichnen, unter dessen Einfluss wir uns befinden, unter dessen Einfluss sich die ganze Materie befindet – genau dieses Gesetz heißt eben die Höchste Kraft. Es zwingt uns durch Druck, uns ihm anzugleichen.
Einem Wissenschaftler eröffnen sich dabei mindestens zwei Möglichkeiten:
- Indem man Kabbala theoretisch studiert, kann man ihre Schlüsse und Gesetze auf andere Wissenschaften übertragen, um so neue Zusammenhänge zu sehen und Schlüsse zu ziehen.
- Indem der Wissenschaftler die eigenen Eigenschaften zur Ähnlichkeit mit der Höchsten Kraft hin praktisch verändert und somit auch zu einem Kabbalisten wird, wird er auch zu einem Praktiker, zu einem Benutzer und Anwender: er kann seine Kenntnisse des Gesetzes der Höchsten Welt auf die Wissenschaft dieser Welt übertragen und somit theoretisch oder praktisch auf seinem Gebiet vorwärts kommen.
In den letzten Jahrhunderten begann sich neben der Philosophie auch die materialistische Psychologie zu entwickeln – die Lehre von unseren Eigenschaften, Gefühlen, von dem, wie wir die Welt wahrnehmen, und sie hat gezeigt, wie begrenzt unsere Wahrnehmung ist, dass wir alles in unserem Inneren wahrnehmen. Das liefert uns die Möglichkeit, das, was die Kabbala anbietet, zu verstehen, nämlich hinter die Grenzen unserer Sinnesorgane zu treten.
Die Identifizierung, der Vergleich der Eigenschaften mit der Höchsten Kraft – dem Allgemeinen Gesetz der Schöpfung – geschieht allmählich, Stufe für Stufe. Der stufenweise Vergleich der Eigenschaften des Menschen mit der Eigenschaft des Gebens des Allgemeinen Gesetzes heißt Aufstieg auf die Stufen der Welten Assija, Yezira, Brija, Azilut, Adam Kadmon, Endlosigkeit, wenn wir infolge dieses Aufstiegs eine vollkommene Übereinstimmung mit diesem Gesetz erreichen, das wir als den „Schöpfer“ bezeichnen (siehe Bild 1)
Bild 1.
In diesem Aufstieg gibt es 125 Stufen: 5 Welten, mit jeweils 5 Parzufim, mit wiederum jeweils 5 Sefirot – insgesamt 125 Stufen der Angleichung der Eigenschaften des Menschen an die Eigenschaft des Gebens des Schöpfers. In dem Maße, in dem der Mensch sich in Übereinstimmung mit dem Schöpfer befindet, hat er positiven Einfluss auf sich und seine Umgebung.
Mit Sinnesorgan ist hier ein Wahrnehmungs-Instrument gemeint (nicht organisch). Ich selbst studierte Bücher, die im 9., und im 11. Jahrhundert verfasst wurden, studierte Ramak (Rabbi Moshe Cordovero), und von ihm begann ich seinerzeit – Pardes Rimonim usw. zu studieren. Dann folgten die Bücher von Ari, nach Ari – die Bücher der ersten Chassidim. Es sind Taal Orot, Meor VeSchemesch, Hunderte von Büchern. Sogar in meiner häuslichen Bibliothek befinden sich nur zur Kabbala ungefähr zweitausend Bücher. Mit meinem Lehrer studierte ich Ramchal, Agra (Vilna Gaon) – alles große Kabbalisten.
Sie schrieben sie jedoch nicht für unsere Generation. Sie schrieben für Kabbalisten – für diejenigen, die sich bereits in den Höchsten Welten befinden. Sie beschrieben ihre Beobachtungen exakt und unmissverständlich. Deswegen fällt es uns sehr schwer, sie zu verstehen.
Man stelle sich vor, die damaligen Schüler, die nicht klüger waren als wir, sondern deren Egoismus sich noch nicht so stark entwickelt hatte, verstanden es besser. Rabash führte ein sehr interessantes Beispiel an – er sagte: „Vor langer Zeit, im Jahre 1928 – 1929, brachte Baal HaSulam seinen Kommentar auf das Buch „Ez Chaim“ (Baum des Lebens) heraus. Wir dachten, dass sich der Prozess der Wissensverbreitung damit erschöpfen würde, d.h. dass keine weiteren Erklärungen nötig wären, alles bereits geklärt sei – das vollständige Wissen ist in diesen Büchern erschöpfend dargestellt. Wir glaubten, dass der Kommentar zum Buch „Ez Chaim“ ausreiche. Es vergingen dann 10 – 15 Jahre und dieses Buch wurde vollkommen unverständlich. Man musste es aufgliedern, neu schreiben, ergänzen. Dann begann Baal HaSulam, TES zu schreiben.“ Interessantes Beispiel dazu in Reuchlin, De Arte cabbalistica: „Mein Lehrer Pythagoras, der der Vater der Philosophie ist, hat diese Lehre dennoch nicht von den Griechen, sondern vielmehr von den Juden empfangen. Deshalb muss er als Kabbalist bezeichnet werden, […] und hat selbst als erster jenen Namen Kabbala, den Seinen unbekannt, in den griechischen Namen Philosophie umgewandelt.“
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