Glaubenssätze

Vor Kurzem wurde mir eine Frage gestellt: Welchen Spruch deiner Eltern würdest du an deine Kinder weitergeben?

Die Frage gefiel mir auf Anhieb. Es fielen mir auch einige markante Leitsätze ein, z.B. der Satz meiner Oma „Kinder mit nem Willen, kriegen was auf die Brillen“….“Geld regiert die Welt“  „Arbeiterkinder sind benachteiligt“. Allerdings würde ich keinen dieser Sätze gern an einen anderen weitergeben.

Lange Zeit schienen sich die einen oder anderen Aussagen zu bestätigen, solange man daran glaubte. Manchmal glaubte ich so sehr daran, dass ich gar nicht mitbekam, dass die Situation sich verändert hatte, z.B. bei „Arbeiterkinder sind benachteiligt“. Es hatte die Studentenbewegung damals durchgesetzt, dass ein gewisser Prozentsatz der Studienplätze an Arbeiterkinder vergeben werden musste. Ich erinnere mich, dass ich lange Zeit nicht schlafen konnte, weil ich angegeben hatte, mein Vater sei Automechaniker und meine Mutter Kindergärtnerin, obwohl beide keine Ausbildung besaßen. Gleichzeitig fühlte ich mich meinen Eltern gegenüber als Schuft, weil sie mir nicht gut genug waren,

Dann erinnerte ich mich an den schon sinnvolleren Spruch meiner Oma: „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie Du den Schmerz.“ Aber so wirklich wusste ich nicht, was damit gemeint war. Wenn meine Oma versuchte, mit heißem Wasser den Ameisennestern vor dem Haus beizukommen, schien es mir, sie würde damit ausdrücken, Tiere hätten kein Schmerzempfinden.

Wenn ich Käfer in Marmeladegläsern mit Löchern für die Atmung sammelte und es ihnen darin mit frischem Gras wohnlich machte, schien mir nichts Schlimmes dabei zu sein, bis mich einmal ein fremder Mann ansprach, das sei doch Tierquälerei und mich bat, sie freizulassen. Ich habe mich schrecklich geschämt. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass Käfer normalerweise weit fliegen. Der Mann gab mir daraufhin ein Stück Schokolade, die ich normalerweise für mein Leben gern aß und die sehr rar war zu dieser Zeit. Aber ich mochte sie nicht und als die Lehrerkinder dann sagten, die sei gewiss vergiftet, warf ich sie weg, obwohl ich so erzogen war, dass jegliches Essen kostbar ist.

Ich spielte gern mit bunten Spinnen und schaute, welche die schnellste war. Einmal plagte mich der Gedanke, warum sie so viele Beine hatten und nicht nur zwei wie ich. Zum Testen riss ich eines aus. Dann ein anderes. Zum Schluss war nur noch ein Bein übrig und ich musste mit Schrecken feststellen, dass die Spinne jetzt nicht mehr laufen konnte und ich keine Möglichkeit hatte, meine Handlung rückgängig zu machen.

Meine Kinder hatten offensichtlich Glück. Sie wurden nie geboren. Und ich hatte vielleicht auch selbst Glück, dass aus mir keine Mörderin geworden ist, da mir schon die Spinnen so egal waren. Ich kann nicht sagen, ob es schlimmer war, schlecht zu sein, als die Tatsache, dass ich sie nicht wirklich fühlen konnte, obwohl ich es realisierte.

Die Sinnsprüche, die mir vermittelt wurden, waren in der Realität schwer nachvollziehbar. „Geld regiert die Welt“ glaubten die meisten und hielten sich daran.

Als ich klein war, versuchte ich, die Regeln genauer zu analysieren. So durfte ich beispielsweise das Wort „Scheiße“ nicht aussprechen. Mir war nie klar, was an diesem Wort so schlimm war. Ich versuchte, durch alle Varianten der Aussprache den Moment herauszufinden, an dem ein „normales“ Wort in ein Pfuiwort umschlug. „Schschsch“ durfte ich noch ungestraft sagen. „Schei“ war auch noch möglich. Zwischen dem sanften und einem scharfen s schien der Moment zu sein, wo etwas Anstoßendes passierte. Dann schlug meine Mutter zu. Dieses Experiment wiederholte sich unzählige Male mit stets gleichem Ergebnis.

In meinem Leben schwebte stets ein Damoklesschwert über all meinen Regungen, so dass ich begann, meine Gefühle zu kontrollieren.

Als ich später in die Schule ging und wie alle Mädchen ein Poesiealbum bekam, schrieb meine Oma mir eine Spruch hinein, über den ich in weiterer Folge viel nachdachte: „Der Mensch kann, was er will und wenn er sagt, er kann nicht, so will er nicht.“ Für meine Oma hat dieser Spruch mit Sicherheit gestimmt, denn alles was sie wollte, war arbeiten. Arbeiten, um den Schmerz um meinen im Krieg gefallenen Opa zu vergessen.

Für mich war auch dieser Spruch ein Rätsel, da ich selbst nie genau wusste, was ich wollte. Und da es ja gleichzeitig hieß „Kinder mit nem Willen, kriegen was auf die Brillen“, war das Ganze ein unvereinbarer Gegensatz oder um gelebt zu werden eine Art Koan.

Niemand meinte es schlecht. Alle taten, was ihnen möglich war. Jeder war gefangen in einem System, in dem das Erziehungsprinzip, den Willen des Kindes zu brechen, sich über die Jahrhunderte hinweg im deutschsprachigen Raum entwickelt hatte und der Erziehungsleitfaden in Deutschland noch bis Mitte der 80iger Jahre auf den Grundlagen der Naziärztin Johanna Harrer basierte.

Was ich heute aus diesen Sinnsprüchen ziehen würde, was ich gern allen kleinen und großen Kindern der Welt vermitteln würde, wäre es die Ermutigung, nie an den eigenen Gefühlen zu zweifeln und sich zu trauen, sie wahrzunehmen. Das Wissen, dass jedes Gefühl ein Existenzrecht hat – und sei es noch so verwirrend und widersprüchlich – ist ungemein erleichternd. Nicht jedes Gefühl muss ausgelebt werden aber es darf einfach so da sein. Es würde mit Sicherheit zu einem mehr entspannten Miteinander beitragen.

Lies dazu: Frieden in der Welt von Baal HaSulam

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