Rabash, Brief 34

Vorabend von Rosh Ha-Shana, 25. September, 1957

An meine Freunde, mögen sie ewig leben.

Nachdem ich euch im imaginären körperlichen Raum näher gekommen bin, hoffen wir auf eine Annäherung der Herzen, denn seit längerem haben wir keine Briefe ausgetauscht. Diese körperliche Tat befördert Einheit, wie man es im Gebet von Rosh ha-Shana aufsagt: „Und sie sollen alle zu einer Vereinigung werden“; dann wird es einfacher, „Deinen Willen aus vollem Herzen zu tun“.

Denn wenn es keine Einigung gibt, ist es schwer, aus vollem Herzen zu arbeiten, sondern ein Teil des Herzen bleibt dem Eigennutz vorbehalten, und nicht dem Nutzen des Schöpfers. Wie es im Midrash Tanchuma heißt: „Ihr stehet heute (5. Mose, 29:10): wie der Tag zuweilen scheint und sich zuweilen verfinstert, so auch ihr; wenn es euch finster ist, soll euch das Licht der Welt leuchten, wie es geschrieben steht: der HERR wird dein ewiges Licht (Jesaja 60:19). Wann? Wenn ihr alle eine Vereinigung sein werdet, wie es geschrieben steht: Ihr lebt alle heutiges Tages (5. Mose 4:4). Wenn man ein Bündel von Schilf nimmt, kann man es etwa auf einmal brechen? Wenn man es aber eines nach dem anderen nimmt, kann sogar ein Kleinkind es brechen. So findest du auch, dass Israel nicht erlöst werden, bevor sie nicht zu einer Vereinigung werden, wie es geschrieben steht: In denselben Tagen und zur selben Zeit, spricht der Herr, werden kommen die Kinder Israel samt den Kindern Judah, etc. (Jeremia 50:4): wenn sie vereint sind, empfangen sie das Angesicht der Shechina (Shechina – göttliche Anwesenheit, Anm. Ü)“.

Ich habe hier die Worte des Midrash gebracht, damit ihr nicht denkt, dass der Begriff der „Gruppe“, also der Liebe unter Freunden, zum Chassidismus gehört. Sondern dies ist die Forderung der Weisen, die gesehen haben, wie wichtig die Vereinigung der Herzen ist – dass sie zu einer Gruppe werden, mit dem Ziel, das Angesicht der Shechina zu empfangen.

Auch wenn es natürlich einen der Freunde geben wird, der aufsteht und schreit: „Recht eure Hand der Vereinigung!“, und seinen Freunden Vernachlässigung unterstellt, kann ich ihn dennoch nicht aus der Gesamtheit der Freunde ausschließen, die diese Sache vernachlässigen. Und dies reiche dem Verstehenden.

Vor allem anderen hoffen wir jedoch, dass der Schöpfer uns in diesem neuen Jahr, Shin-Tav Yud-Chet (Buchstabenkombination für das Jahr 5718, ergibt in geänderter Reihenfolge auch die Wortkombination „Du sollst leben“, Anm. Ü), ewiges Leben schenken möge, wie es geschrieben steht: „Denn Gott hat mir einen anderen Samen gesetzt für Abel“ (1. Mose, 4:25); und „Du sollst leben“ möge in Erfüllung kommen.

Rosh ha-Shana bedeutet einen Neuanfang, dass der Mensch also beginnt, das Gebäude von neuem zu errichten, wie die Weisen sagten: „Der Mensch soll sich immer als halb sündig und halb rechtschaffen ansehen (wörtlich „halb schuldig und halb unschuldig“, Anm. Ü). Hat er ein einziges Gebot erfüllt, dann ist das Glück sein, denn er warf sich selbst und die ganze Welt mit sich auf die Waagschale des Verdienstes. Hat er eine einzige Verfehlung begangen, wehe ihm, denn er warf sich selbst und die ganze Welt mit sich auf die Waagschale der Schuld“.

Wir müssen verstehen, was es bedeutet, dass der Mensch sich stets als halb-halb ansehen soll: 1) wenn er ein Gebot (Mizwa) erfüllt und sich auf die Waagschale des Verdienstes geworfen hat, wie kann man dann sagen, dass er noch „halb-halb“ ist? Hat er nicht schon für die Waagschale des Verdienstes entschieden? Genauso im umgekehrten Fall, wenn er schon, Gott behüte, eine einzige Verfehlung begangen hat, wie kann man noch sagen, dass er halb-halb ist? 2) Wie kann man sagen, dass er sich als halb-halb ansehen soll, wenn der Mensch selbst weiß, dass er voller Fehler und Sünden ist? Gleichzeitig ist der Mensch verpflichtet, zu bekennen: „Wir sind schuldig, wir haben betrogen“, und „Für die Sünde“.

Hier geben uns die Weisen die Arbeitsabfolge zu verstehen. Hier geht es also nicht um Recht und Urteil vor dem Gericht von Oben. Erst wenn der Mensch vor dem Gericht von Oben erscheint, werden die Verstöße und die Verdienste gezählt. Die Weisen lehren uns hier stattdessen, dass der Mensch immer mit der Arbeit beginnen, sich für das Gute entscheiden und vom Bösen angewidert abwenden kann. Denn eine Wahl findet gerade dort statt, wo es halb-halb steht: dann hat man die Kraft zu wählen. Wenn aber der Großteil auf einer der Seiten ist, kann der Mensch nicht entscheiden, denn der Mensch will immer der Mehrheit folgen, und dann kann von einer Wahl nicht mehr die Rede sein.

Dann stellt sich die Frage, wie der Mensch sich selbst betrügen und sagen kann, dass er halb-halb ist, wenn er selbst weiß, dass er voller Sünden ist? Hier muss man wissen, dass die Wahl, vor die der Mensch gestellt wird, stets vorhanden und existent ist, wie es heißt: „Wer größer ist als sein Freund, dessen Begehren ist größer“. Nach dieser Regel gilt: Wenn ein Mensch viele Fehler hat, dann hat er eine kleine Begierde, nicht größer, als der gute Trieb, sondern genau halb-halb. Dies, um ihn zu befähigen, sich zu entscheiden.

Da die Übertretungen durch den bösen Trieb kommen, und die Gebote – durch den guten Trieb, wie Rashi erklärt hatte: „Du hast Gerechte erschaffen – mittels des guten Triebes. Du hast Sünder erschaffen – mittels des bösen Triebes“. Deswegen sagten die Weisen: „Der Mensch soll sich immer als halb sündig und halb rechtschaffen ansehen“. In anderen Worten, in Bezug auf die Wahl ist er immer, wenn die Verfehlungen von … kommen, dann verringert sich der böse Trieb; er ist somit halb-halb. In ähnlicher Weise bekommt er, wenn er ein Gebot erfüllt hat und sich damit bereits in die Waagschale des Verdienstes geworfen hat, einen größeren bösen Trieb, gemäß dem bereits zitierten „Wer größer ist als sein Freund, dessen Begehren ist größer“, und wieder ist er halb-halb. Dies, um es dem Menschen zu ermöglichen, sich in die Waagschale des Verdienstes zu werfen.

Deswegen beginnt der Mensch an Rosh ha-Shana seine Arbeit von neuem. Zusätzlich zu dem bereits gesagten gelten die „zehn Tage der Rückkehr“ als Tage der Abbitten und der Vergebung der Sünden. Alles, damit der Mensch Gelegenheit bekommt, wieder in den Dienst des Schöpfers zu treten, obwohl er der Arbeit so fern war.

Den Kern der Arbeit bildet das Gebet, denn nur durch das Gebet vermag der Mensch aus der Herrschaft der Vielen auszutreten und sich in die Herrschaft des Einen zu begeben. Denn hinsichtlich des Gebetes sind Klein und Groß gleich. Im Gegenteil, wer seine Geringfügigkeit mehr spürt, ist mehr in der Lage, ein echtes Gebet aus der Tiefe des Herzens zu sprechen, da er selbst weiß, dass er nicht in der Lage ist, sich durch seine selbstständigen Taten aus der Bedrängnis zu befreien. Denn dann kann er sagen, dass nur, wer mit besonderen Talenten und feinen Eigenschaften erschaffen wurde, aus eigener Kraft handeln könne. Wer jedoch keine Talente und keine guten Eigenschaften besitze, sei auf die Barmherzigkeit des Himmels angewiesen; folglich ist nur dieser Mensch in der Lage, ein echtes Gebet zu sprechen.

Doch man muss Acht geben, nicht Gott behüte den Kampf zu meiden; denn es ist der Weg der Neigung, dort, wo der Mensch ein wahres Gebet sprechen kann, ihm Funken der Verzweiflung zu geben, und ihm Beweise, Vernunftschlüsse und Rückschlüsse zu liefern, dass sein Gebet ihm nicht nützen würde, bis der Mensch nicht [mehr] in der Lage ist, in „denn Du hörst das Gebet jedes Mundes“ zu glauben. Denn es ist bekannt, was die Weisen sagten: „Der Schöpfer sehnt sich nach den Gebeten der Gerechten“, denn das Gebet ist im Wesentlichen das Gefäß für die Inspiration der Göttlichkeit, weil es als „Gebet für den Armen“ bezeichnet wird.

Und das Gebet ist auch für die Großen unter Großen gültig, denn sonst kommt der Mensch zum Stillstand in der Arbeit. Dies ist die Bedeutung des Verses; „Es werden allezeit Arme sein im Lande“ (wörtlich: „die Armut wird nicht aus dem Land schwinden“, Anm. Ü.) (5. Mose, 15:11); und man muss verstehen, warum der Schöpfer uns ein solches Versprechen gegeben hat, denn es bedeutet, dass es notwendig ist, dass es Armut gibt; wäre es nicht besser, wenn es so etwas in Israel nicht gäbe?

In der obigen Interpretation bedeutet „Armut“ jedoch den Platz für Gebet, und wenn es keinen Platz des Mangels (Chissaron) gibt, gibt es auch keinen Platz für Gebet. Wenn dem so ist, heißt es dann, dass wenn ein Mensch der Größe würdig wird, kein Platz mehr für Gebet ist? Hierzu verspricht uns der Schöpfer: „wird nicht schwinden“, etc. Es wird also immer Raum sein, um einen Mangel zu finden und um auf eine höhere Stufe aufzusteigen.

Dies ist die Bedeutung von „die Armut steht Israel, wie ein rotes Band dem weißen Pferd“ (Babylonischer Talmud, Chagiga 9b). Gemeint ist, auch wenn er bereits Jude in vollkommener Größe ist, soll es dennoch Armut geben, also einen Platz des Mangels, damit er ein Gebet sprechen kann, wie oben erklärt.

Dies ist es, was die Gemara erklärt (Brachot 9b): „Rabbi Ela sagte zu Ulla, „Wenn du dort hinauf gehst, grüße meinen Bruder, Rabbi Berona, in der Anwesenheit der gesamten Gruppe, denn er ist ein großer Mann und erfreut sich der Mizwot (Gebote/Gute Taten). Einmal schaffte er es, Erlösung mit dem Gebet zu verbinden, und ein Lächeln weichte den ganzen Tag nicht von seinen Lippen“. Gemeint ist, dass er ein großer Mann ist – denn wenn er sich im Zustand der Erlösung befindet, ist er bereits von allen Bedürfnissen befreit, und dann hat er nichts mehr zu tun; seine Arbeit besteht dann darin, in sich irgendein Defizit (Chissaron heißt Mangel/Defizit/Bedürfnis in dem Sinne, dass es dem Menschen an etwas mangelt, Anm. Ü.) ausfindig zu machen, um dafür zu beten. Wenn er aber „Erlösung mit Gebet verband“, heißt es, dass er unbändige Freude verspürte, als er Raum für das Gebet fand, wie es oben heißt: „denn die Armut wird nicht aus dem Land schwinden“.

Aus allem oben gesagten folgt, dass das Gebet am wichtigsten ist. Verstärkt euch im Gebet und glaubt an „denn du hörst das Gebet jedes Mundes“.

Mögen wir in das Buch des Lebens eingeschrieben werden.

Euer Freund Baruch Shalom HaLevi Ashlag, Sohn von Baal Hasulam seligen Andenkens.

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