30 Jahre nach Covid-19 oder: Eine Gesellschaft der Zukunft
Die ersten Jahre
Wir schreiben das Jahr 2050 und erinnern uns dieser Tage zurück an 2020, als es aufgrund der ersten Corona Pandemie zum ersten globalen Stillstand kam. Aus Angst vor Ausbreitung des Virus wurden weltweit Ausgangssperren verhängt, der Flug- und Reiseverkehr wurde gänzlich eingestellt, der Handel kam zum Erliegen, Sport- und Kulturevents wurden ausgesetzt.
Grenzen wurden geschlossen und obwohl alle nach Solidarität schrien, herrschte bis auf das Zuhausebleiben Un-Solidarität. Es gab einen Kampf um Schutzausrüstungen, Tests und Impfungen, die zurückgehalten, gestohlen, nicht ausgeliefert wurden. Mit dem Elend wurden Geschäfte gemacht, stark betroffene Regionen erhielten keinerlei Unterstützung von jenen, denen es noch besser ging. Die Zahl der Arbeitslosen und Verschuldeten stieg ins Unermessliche. Obwohl es damals kaum Corona Tote gab, sorgte der damit einhergehende wirtschaftliche Stillstand für eine weltweite Rezession.
Doch damit war es nicht geschehen. Es folgten zusätzlich Klimakatastrophen mit Dürren und Überschwemmungen, Frostperioden im Frühling, die Ernten vernichteten. Ganze Landstriche wurden zu Wüsten oder zu Sümpfen. Der kontinuierliche Einsatz von Pestiziden und Herbiziden zur Ertragsvergrößerung führte am Ende zum Ruin der Böden und zu weltweiten Hungersnöten, wie man sie vorher nur von Afrika kannte.
Das omnipräsente Leid, die Staatsverschuldungen, die zahlreichen Fehlentscheidungen der Führenden, die gegenseitigen Beschuldigungen und der Kampf um Ressourcen erreichten durch weitere Viruspandemien schließlich 2026 ihren Gipfel. Die Menschheit war am Endpunkt angelangt. Armut und Verzweiflung prägten nun auch die zuvor reichen G20 und die großen, ehemals vermögenden Metropolen.
Nahezu in allen Ländern konnten sich die gewählten Parteien nicht mehr auf Koalitionen einigen. Der öffentliche Diskurs, was man tun könnte, versiegte. Zudem war die Menschheit gesättigt von den Horror-Bildern und den immer gleichen negativen Nachrichten, die tagtäglich im Minutentakt in allen Medien ausgestrahlt wurden. Manche flüchteten in die Isolation, manche zogen sich in die Religionen zurück. Social distancing war zu einem gesellschaftlichen Un-Wert geworden und die damit einhergehenden psychischen Erkrankungen verschlimmerten die Situation weiter. In den eigenen vier Wänden lebten die Menschen ihren Frust aus, stritten und schlugen sich, nahmen Drogen oder versuchten irgendwie, die Zeit und Isolation totzuschlagen.
Die Wende
Die Wende haben wir den Träumern und Idealisten, den Optimisten und Erneuerern von damals zu verdanken, die sich langsam zu einer vereinten sozialen Bewegung zusammenfanden. Mitten im Chaos sprossen regionale Gemeinschaften und Verbände aus dem Boden, die es mit der Verzweiflung aufnahmen. Es gelang ihnen, die Menschen wieder dazu zu motivieren, zu leben, sich gegenseitig zuzuhören und sich ihrer vergessenen persönlichen Ressourcen zu erinnern. In diesen Gemeinschaften war jeder willkommen: Die Alten und Kranken, die Rüstigen, die Kinder, die Macher, die Versorger, die Behüter, die Sammler, die Jäger, die Kreativen, die Kräftigen und selbstverständlich die Schwachen.
Das Internet wurde wiederentdeckt, jedoch wegen des großen Energieverbrauchs der Server nur mehr zum Netzwerken und zum Austausch von Know-How, altem Handwerkswissen, Bildung und Kultur verwendet. Das Internet zur Selbstbespaßung und Selbstdarstellung hatte ausgedient. Da die Menschheit nicht nur nahrungsmäßig ausgehungert war, sondern sich auch nach neuen Reizen sehnte, wuchs das neue, soziale Netzwerk schnell auf ein globales Ausmaß an, dem aus Mangel an Alternativen einerseits und durch die neuen attraktiven Möglichkeiten, sich in die Gemeinschaft einzubringen, in kurzer Zeit viele Menschen folgten.
Ein neues Menschenbild wurde geboren, das dem Grundsatz folgte: Das Leben und Glück des anderen ist mir gleich wichtig wie meins. Der Mensch – und nicht länger der Profit – steht heute im Mittelpunkt des Weltgeschehens.
Eine neue kollektive Regierungsform entstand: Der globale humanistische Altruismus. Jeder Mensch sollte überall auf der Erde alles vorfinden, was er zum Leben, zum Arbeiten, zur Selbstentfaltung und zum Glücklichsein brauchte. Nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutete: Zugang zu Wasser und Toilette für alle. Nahrung für alle. Dach über dem Kopf für alle. Arbeit für alle. Liebe, Respekt und Mitgefühl für alle. Und überall.
Es bedeutet weiter, dass jeder Mensch im Bereich seiner Möglichkeiten Eigenverantwortung für die Gesellschaft übernahm und sein Handeln auf deren Wohl ausrichtete. Das Solidaritätsprinzip: reich sorgt für arm, gesund für krank, jung für alt erlebte eine Renaissance – jedoch nicht „institutionell verordnet“, sondern von den Menschen selbst gewählt, verstanden und gelebt.
Bildung heute
Unser heutiges globales Bildungssystem befähigt jedes Kind und auch jeden Erwachsenen, seine natürlichen Talente auszuleben und sie zu fördern. Gelehrt wird, was gebraucht wird. Beurteilungen gibt es nicht mehr. Die Gemeinschaft überprüft sich selbst, ob jedem Mitglied genug gegeben wurde, um sich zu entfalten. Darüber hinaus kann jeder lernen und sich aneignen, was er möchte. Unterschiedliche Meinungen finden Gehör und werden als wichtige Bestandteile für die weitere Entwicklung des Menschen angesehen.
„Schule“ findet heute nicht mehr nur in Klassenzimmern statt, sondern überwiegend im Wald, auf den Wiesen und Feldern oder in den Wüsten und Sümpfen. Kinder dürfen sich frei bewegen und auch wieder auf Bäume klettern und im Schlamm spielen. Das neue Schulsystem erhöht neben ihrer sozialen Intelligenz auch ihre körperliche Geschicklichkeit. Umfassende Bildung, einer der wichtigsten Werte in der Gesellschaft, wird heute mit den Geldern der ehemaligen Rüstungsindustrie finanziert.
In den Gemeinschaften spielen die Kinder in größeren Verbänden miteinander und werden von älteren Kindern oder Omas und Opas betreut. Die vielen verschiedenen Arten von Wohngemeinschaften, die sich aus unseren unterschiedlichen Bedürfnissen heraus ergaben, geben uns Sicherheit und zeigen uns die vielen Vorteile eines kommunalen Lebensstils.
Männer und Frauen haben nach 200 Jahren Geschlechterstreit endlich ihren unsäglichen Konkurrenzkampf zugunsten Partnerschaften aufgegeben, die sich ergänzen und die Fähigkeiten des jeweils anderen Geschlechts schätzen und ehren.
Arbeit und Freizeit
Daraus ergaben sich neue Arbeits- und Forschungsbereiche und neue Berufe. Die Kinder-, Alten- und Krankenbetreuung erfolgt heute auf persönlicher Ebene, in der eigenen Umgebung in Zusammenarbeit mit Experten. Das ehemalige Paradigma „Kranke zu heilen“ wandelte sich bald zu „Gesundheit zu erhalten und zu fördern“. Gesundheitspfleger besuchen die Gemeinschaften in regelmäßigen Abständen. All das machte das Gesundheitswesen bezahlbar.
Menschen in Berufen, die der Aufrechterhaltung der Infrastruktur und des Systems dienen (Reinigung, Straßenbau, Betreuung und Pflege, Lehre und Ausbildung, Nahrungsmittelerzeugung usw.), erhalten heute zusätzlich zum bedingungslosen Grundeinkommen eine entsprechend hohe Entlohnung. Genauso wurden die Landwirte und Gärtner aufgewertet. Die Böden sind wieder fruchtbar, Almen werden wieder bewirtschaftet und das bereichernde, mittlerweile exzessive Urban Gardening führte dazu, dass bei Tageslicht viele Städte auf Google Earth bereits mit der grünen Umgebung verschmelzen.
Alte Berufe wie Broker und Aktienhändler, überhaupt das Handeln mit imaginärem Geld gehören glücklicherweise der Vergangenheit an. Investoren investieren nicht, um ihr Kapital zu vergrößern, sondern um innovativen Ideen Chancen zum Wahrwerden zu geben.
Der Mensch von heute verfügt über seine Zeit selbst. Er nutzt sie dazu, das Sozialsystem weiter voranzutreiben, sich selbst und andere zu bilden, neue, dem Menschen und dem Planeten dienende Technologien zu (er)finden und wird dafür von der Gesellschaft anerkannt und wertgeschätzt – ein Umstand, der vor noch nicht allzu langer Zeit undenkbar gewesen wäre.
Fremde Kulturen und Rassen werden nicht mehr als bedrohlich angesehen, sondern als Horizont-Erweiterung in die eigene Wahrnehmung integriert. Fremdenhass und Patriotismus ist der Boden entzogen, da es keine Fremden im engeren Sinn gibt und wir den Planeten als unsere einzige und gemeinsame Heimat ansehen, die es zu schützen gilt.
Leben mit der Natur
Das Wissen um unsere absolute Abhängigkeit von der Natur und voneinander hat sich als wichtigste Erkenntnis in unsere Köpfen eingebrannt. Die Vertreter aller Glaubensrichtungen einigten sich darauf, dass der Gottesbegriff zwingend den Menschen als Gegenüber benötigt und somit dessen Lebensgrundlage – also Mutter Erde mit all ihren Geschöpfen, Pflanzen und Mineralien – unter allen Umständen zu schützen und zu pflegen ist. Damit der Mensch überlebt.
Massentierhaltung und ausschließlich der Nahrungszeugung dienende Züchtungen, Antibiotika, Pestizide und Herbizide sind heute auf das niedrigstmögliche Niveau begrenzt, da sich herausstellte, dass diese Art der Landwirtschaft hauptverantwortlich für die Entstehung von Krankheiten und panresistenten Keimen war, die auf keinerlei Antibiotikum mehr ansprachen. Die Rückbesinnung auf natürliche Ressourcen, nachhaltige Landwirtschaft und Ackerbau hatte großen Einfluss auf die Änderung des Essverhaltens. Wohlstandserkrankungen wie Fettleibigkeit, Gefäßverkalkung und Diabetes sind heute Vergangenheit.
Das gesellschaftliche Leben findet in den Gemeinschaften statt, in die wir uns begeben. Wir sind nun weitgehend frei von Vorurteilen und Berührungsängsten. Wir erleben heute bereichernde gesellige Abende, wo wir darüber staunen, was jeder von uns beitragen kann. Dies inspiriert uns dazu, in uns und in den anderen nach weiteren Fähigkeiten zu forschen und sie zu fördern.
Umgang mit Pandemien und Kooperation
Mittlerweile sind wir auch an Pandemien gewöhnt. Das innovative Vorgehen bei Virusalarm, welches 2028 eingeführt wurde, zeigte uns, welch Potenzial eine Notlage in sich bergen kann. Wurde die globale Ausgangsbeschränkung bei den ersten Alarmen noch holprig umgesetzt, ist sie heute Routine. Durch den konzertierten, weltweiten, diszipliniert ablaufenden Shut-Down kann heute weiter und gezielter an der Verbreitung, Lebensweise und Eindämmung von Viren geforscht werden und Menschenleben können erfolgreich geschützt werden.
Im Falle eines Virusalarms bleiben die Reisenden unter uns heute da, wo sie sich gerade auf der Welt befinden. Wir werden von den Einheimischen wie Familienmitglieder aufgenommen und können während der Quarantänezeit einer anderen Arbeit nachgehen, neue Kulturen erfahren und Menschen kennenlernen, die uns wohlgesonnen sind. Damit bringen wir unser Know-How zu unseren Gastfamilien und erhalten im Gegenzug neue Ideen und Kenntnisse, die nützlich für unsere eigenen Regionen sind.
Doch auch die Daheimgebliebenen verhalten sich aus Respekt vor dem Leben anderer ganz normal rücksichtsvoll. Größere Versammlungen werden vermieden und die Senioren speziell geschützt, da sich das schwedische Modell rückblickend als das beste herausstellte.
Mein Heute
Ich erinnere mich heute mit Schrecken daran, wie wir das Jahr 2020 und die Zeit danach erlebten. Viele meiner Freunde und ich waren ratlos und erschüttert, als sich die Ereignisse überschlugen. Doch wir waren auch vorsichtig optimistisch, dass sich nun alles zum Besseren wenden würde. Wir verteilten Botschaften in den sozialen Netzwerken darüber, wie wichtig es wäre, jetzt zusammenzuhalten – und zwar weltweit, jenseits von Landesgrenzen und Ideologien. Viele Experten meldeten sich zu Wort und schlugen in dieselbe Kerbe. Zum Glück wussten wir damals nicht, dass noch einige Jahre vergehen würden.
Dass ich heute als 87 jährige noch so einen Text schreiben kann, verdanke ich a) meinen Gesundheitsbuddies, die mich wöchentlich besuchen, b) den anregenden Gesprächen mit den Menschen in meinem Umfeld, c) meiner WG, die mich unterstützt und versorgt, aber mich auch noch fordert und d) dem 2030 in Kraft getretenen Beschluss, die Erzeugung von Tabakprodukten weltweit aufzugeben. Über die Aufgabe von Alkohol diskutiert man noch.
Ich verbringe meinen Lebensabend in einer Gemeinschaft mit zwölf Familienangehörigen und Freunden im Alter von eins bis 120. Wir versorgen uns weitgehend selbst und arbeiten alle gemeinsam an unserem Lebensunterhalt. Wir haben einen riesigen Gemüsegarten, dessen Bearbeitung und Ernte uns viel Freude bereiten.
Großartig ist, dass Senioren heute noch eine Aufgabe haben und nicht alt und ausgedient in einem Pflegeheim abgestellt werden. Nach dem großen Wandel der 20er Jahre konnten wir uns nicht mehr leisten, die Alten in Heime abzuschieben und auf all deren Wissen und Fähigkeiten zu verzichten. Ja, wir konnten uns nicht mal mehr leisten, in Pension zu gehen, was zunächst ein großer Schock war, sich aber auf Dauer als überaus positiv herausstellte. Denn durch die kontinuierliche Beschäftigung und die „Mitarbeit“ in den neu entstandenen Kommunen sanken auch die zuvor angestiegenen Demenzerkrankungen wieder.
Mich freut es, dass ich in meinen Sechzigern und Siebzigern doch nochmal die Gelegenheit bekam, Kinder zu betreuen, mit ihnen die Welt zu erforschen, ihnen Geschichten zu erzählen und mir welche von ihnen erzählen zu lassen.
Ich bin dankbar dafür, dass wir als Menschheit die Kurve kratzen konnten und dass unsere einstige Sorge um die Zukunft durch das feste Vertrauen in die Liebe zwischen den Menschen ersetzt wurde. Wir dürfen es aber nicht als selbstverständlich ansehen. Die Arbeit am Menschsein dauert ein ganzes Leben.
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