Das Wesen der Religion und ihr Ziel
Rav Yehuda Ashlag
Ich möchte hier drei Fragen beantworten:
- Worin besteht das Wesen der Religion?
- Wird ihr Ziel in dieser Welt oder in der zukünftigen Welt erreicht?
- Ist das Ziel der Religion das Wohl des Schöpfers oder das Wohl der Geschöpfe?
Auf den ersten Blick wird sich der Leser über meine Worte wundern und diese drei Fragen nicht verstehen, die ich als Thema für diesen Artikel wählte. Denn wer weiß nicht, was Religion ist? Und wer weiß denn nicht, dass man sich deren Belohnung und Bestrafung hauptsächlich in der zukünftigen Welt erwartet und erhofft? Geschweige denn die dritte Frage. Alle wissen, dass sie auf das Wohl der Geschöpfe ausgerichtet ist – sie mit Gutem und mit Reichtum zu verwöhnen. Und was kann man dem noch hinzufügen?
Und tatsächlich habe ich dem nichts hinzuzufügen. Weil jedoch diese drei Fragen so bekannt und üblich sind, von der Kindheit an eingesaugt, kann man im Verlauf des gesamten Lebens weder etwas zu ihnen hinzufügen noch in ihnen Klärung betreiben. Das zeugt jedoch von der Unkenntnis dieser erhabenen Begriffe, die tatsächlich die Grundlagen des Fundaments sind, auf welchem das gesamte religiöse „Gebäude“ aufgebaut ist und sich stützt.
Und wenn dem so ist, dann sagt mir: Wie ist es möglich, dass ein Jugendlicher von zwölf oder vierzehn Jahren schon reif genug ist, um in die ganze Tiefe dieser drei Begriffe einzudringen und sie zu verstehen? Dies auch noch in einem solch ausreichenden Maß, dass er dem im Laufe seines ganzen Lebens nicht mehr irgendeine Meinung und Kenntnis hinzufügen muss?
Hier genau liegt das Problem! Denn eine solch oberflächliche Annahme führte auch zu einem oberflächlichen Wissen und zu Schlussfolgerungen wildesten Charakters, welche die Welt unserer Generation erfüllten, und uns zu einem Zustand führten, dass die zweite Generation unserem Einfluss fast schon entglitten ist.
Das absolut Gute
Um den Leser nicht mit langen Ausführungen zu ermüden, werde ich mich nur nach dem richten, was in den vorausgehenden Artikeln geschrieben wurde, hauptsächlich nach dem Artikel „Gabe der Tora“ – nach allem, was eine Einleitung zu diesem erhabenen Thema bietet, welches wir besprechen. Ich werde mich kurz und einfach ausdrücken, damit es jedem verständlich wird.
Zu Beginn muss man verstehen, dass der Schöpfer das absolut Gute ist. Es ist also unmöglich, dass er jemandem irgendein Leid zufügen würde, und das nehmen wir als das wichtigste Gesetz wahr. Der gesunde Menschenverstand zeigt uns klar, dass die Grundlage aller schlechten Taten nichts anderes als der „Wille zu empfangen“ ist.
Das bedeutet, dass die leidenschaftliche Jagd nach eigenem Wohlergehen, die vom Willen zu empfangen hervorgerufen wird, der Grund dafür ist, dem Nächsten Leid anzutun, da der Wille zu empfangen danach strebt, sich zu füllen. Und zwar so, dass, wenn das Geschöpf eine Befriedigung zu seinem eigenen Wohl fände, es niemanden in der Welt gäbe, der seinem Nächsten Leid antun würde. Und wenn wir manchmal auf irgendein Geschöpf treffen, welches seinesgleichen Leid antut, nicht aus dem Willen heraus, Genuss für sich zu empfangen, so tut es dies nur aus der Gewohnheit heraus, die ursprünglich durch den Willen zu empfangen ins Leben gerufen wurde. Und diese Gewohnheit ist nun die einzige Ursache und befreit von der Suche nach einem anderen Grund.
Da der Schöpfer von uns hinsichtlich seines Wesens als vollkommen wahrgenommen wird und keine Hilfe benötigt, in Seiner Perfektion allem Seienden vorausgehend zu sein, ist klar, dass es in Ihm keinerlei Willen zu empfangen gibt. Und da es in Ihm nichts vom Willen zu empfangen gibt, fehlt auch jeder Grund, jemandem Schaden zuzufügen. Und das ist ganz einfach zu verstehen.
Doch außerdem haben wir auch mit dem ganzen Herzen in endgültiger Vollkommenheit angenommen, dass Er etwas hat, das als „Wille zu geben“ bezeichnet wurde. Es ist der Wille, dem Nächsten – Seinen Geschöpfen – Gutes zu tun, was mit aller Offensichtlichkeit aus der von Ihm erschaffenen, erhabenen Schöpfung resultiert, die sich unseren Augen darstellt. Denn in Wirklichkeit gibt es in unserer Welt Geschöpfe, die entweder gute oder schlechte Empfindungen haben. Und was sie auch empfinden, wird tatsächlich vom Schöpfer verursacht. Nachdem endgültig geklärt und als Gesetz angenommen wurde, dass der Schöpfer keine Absicht hat, Böses zuzufügen, wird klar, dass alle Geschöpfe von Ihm in Wirklichkeit nur Gutes bekommen, denn Er erschuf sie nur, um ihnen Genuss zu bereiten.
Somit haben wir geklärt, dass der Schöpfer nur über einen Wunsch, Gutes zu geben, verfügt, und Sein Gesetz es keinesfalls erlaubt, jemandem auch nur ein Gramm Schaden oder Leid zuzufügen. Es ist unmöglich, dass es von Ihm ausgehen würde, und daher gaben wir Ihm den Namen des „Absolut Guten“. Nachdem wir dies erkannt haben, werden wir hinabsteigen und uns die wirkliche Realität anschauen, die von Ihm gelenkt und kontrolliert wird, und die Weise, wie Er nur Gutes tut.
Die Lenkung des Schöpfers ist eine zielgerichtete Lenkung
Das wird aus der Entwicklung der Objekte der uns umgebenden Wirklichkeit selbst klar. Wenn wir uns jedes noch so kleine Geschöpf vornehmen, welches einer der vier Arten angehört – bewegungslos, pflanzlich, tierisch, sprechend (Mensch) – werden wir sehen, dass sowohl das Einzelwesen als auch seine Art als Ganzes zielgerichtet gelenkt werden. Das heißt, die langsame und stufenweise Entwicklung, die durch den Rahmen von Ursache und Wirkung bedingt ist, gleicht der Frucht eines Baumes, deren Lenkung ein gutes Endziel verfolgt – sie süß und angenehm im Geschmack zu machen.
Fragt die Botaniker, wie viele Zustände diese Frucht vom Moment der Entstehung an bis zur Erreichung ihres Ziels – der endgültigen Reife – durchläuft. Und alle Zustände, die dem endgültigen vorausgehen, entbehren nicht nur der Andeutung auf deren endgültigen, schönen und süßen Zustand, sondern zeigen uns im Gegenteil (als wollten sie uns ärgern) eher den Gegensatz zu ihrer Endform.
Je süßer die Frucht am Ende ist, desto bitterer und hässlicher ist sie in den vorausgehenden Stufen ihrer Entwicklung. Genauso auf den Stufen „tierisch“ und „sprechend“ (Mensch): ein Tier, dessen Verstand auch bei Abschluss des Wachstums klein bleibt, durchläuft keine bedeutenden Veränderungen im Entwicklungsprozess, während im Menschen, dessen Verstand sich am Ende seiner Entwicklung vielfach vergrößert, riesige Veränderungen stattfinden. Ein eintägiges Kalb wird bereits als Stier bezeichnet, da es über die Kraft verfügt, auf den Beinen zu stehen und zu laufen, sowie auch über den Verstand, Gefahren zu meiden, die auf seinem Weg vorkommen.
Der Mensch dagegen gleicht, wenn er einen Tag alt ist, einem Geschöpf, dem viele solcher Sinne fehlen. Und wenn jemand, der die Realität dieser Welt nicht kennt, diese zwei Neugeborenen betrachten und versuchen würde, die Situation zu beschreiben, so würde er natürlich vom Säugling sagen, dass aus diesem nie etwas werden wird, und vom Kalb würde er sagen, dass ein großer Held auf die Welt gekommen sei; wenn er also nach dem Entwicklungsstand des Verstandes des Kalbs und des Neugeborenen, welches nichts versteht und nichts fühlt, urteilen würde.
Somit springt klar ins Auge, dass die Lenkung der Wirklichkeit, die der Schöpfer erschuf, nichts anderes als eine Form von „zielgerichteter Lenkung“ ist, welche die Reihenfolge von Entwicklungsstufen nicht in Betracht zieht. Ganz im Gegenteil versucht sie scheinbar, uns mit deren Hilfe absichtlich zu täuschen, indem sie uns immer Zustände zeigt, die ihrer Endvariante entgegengesetzt sind.
Das meinen wir, wenn wir sagen: „Es gibt keinen klügeren Menschen als den Erfahrenen.“ Denn nur ein Mensch, der Erfahrung erlangt hat und über die Möglichkeit verfügt, das Geschöpf in allen Entwicklungsstadien bis zum letzten vollkommenen Zustand zu beobachten, kann die Gemüter beruhigen. Dann fürchtet man sich nicht vor all diesen verdorbenen Bildern, in welchen sich das Geschöpf in seinen unterschiedlichen Stadien der Entwicklung befindet und kann an die Schönheit und die Vollkommenheit der abgeschlossenen Entwicklung glauben.
Und nun wurden die Lenkungswege des Schöpfers in unserer Welt deutlich, und zwar, dass diese Lenkung ausschließlich zielgerichtet ist. Doch das Gute wird im Ganzen nicht erkannt, solange das Geschöpf nicht seinen Endpunkt erreicht hat, das heißt die vollendete Form und die endgültige Entwicklung. Ganz im Gegenteil hüllt es sich bis dahin stets in einen Umschlag aus Verdorbenem gegenüber dem Betrachter. Doch es ist klar, dass der Schöpfer Seinen Geschöpfen immer nur Gutes tut, und dieses Gute, welches von Ihm ausgeht, wird zielgerichtet gelenkt.
Zwei Wege: Weg des Leidens und Weg der Tora
Auf diese Weise wurde geklärt, dass der Schöpfer das „absolut Gute“ ist. Er lenkt uns zielgerichtet, ausgehend von Seiner Perfektion des absolut Guten und ohne jede Beimischung von Bösem. Das bedeutet, dass die Zielgerichtetheit Seiner Lenkung uns verpflichtet, die Reihenfolge des Durchlaufens unterschiedlicher Zustände auf uns zu nehmen, die durch das Gesetz von Ursache und Wirkung bedingt sind, bis wir schließlich würdig werden, das erwünschte Gute zu empfangen, wodurch wir das Ziel unserer Schöpfung erreichen – wie eine prächtige Frucht am Ende ihrer Reifung. Somit ist klar, dass das Resultat absolut jedem von uns gewährt ist. Und wenn du damit nicht einverstanden bist, so wirfst du dadurch einen Schatten auf die Lenkung des Schöpfers, indem du sagst, dass sie angeblich unzureichend zur Erlangung des Ziels sei.
Die Weisen sagten, dass die „Shechina bei den Niederen eine große Notwendigkeit“ ist. Da die Lenkung des Schöpfers zielgerichtet ist, wird sie uns am Ende zu einer Verschmelzung mit Ihm führen, damit Er in uns wohnt. Und das wird als eine große Notwendigkeit bezeichnet. Das heißt, wenn wir das nicht erreichen, so würde sich dadurch sozusagen ein Mangel an Seiner Lenkung offenbaren.
Und das gleicht einem mächtigen König, der im Greisenalter einen Sohn bekam und diesen sehr liebte. Und daher hat sich der König vom Tag der Geburt seines Sohnes an vorgenommen, ihm alles zu geben. Zu diesem Zweck versammelte er alle wertvollen Bücher und alle hervorragenden Weisen, die es im Lande gab, und baute ihm ein Lehrhaus (Beit Midrash) zur Erreichung von Weisheit. Und er rief berühmte Bauleute zusammen und baute ihm Lustpaläste und versammelte alle Sänger und Musiker, damit sie ihn Musik und die Kunst des Singens lehren würden, und er rief die geschicktesten Köche und Konditoren zusammen, damit sie ihm die schmackhaftesten Gerichte der Welt bereiten würden.
Und so wuchs der Sohn heran und wurde zum Mann. Doch er stellte sich als dumm heraus und ohne Drang zur Wissenschaft. Und er ist blind und sieht nicht und spürt nicht die Pracht der Gebäude. Und er ist taub und hört nicht das Singen und die Stimmen der Instrumente. Und er ist krank und kann es sich nicht erlauben, das für ihn Zubereitete zu essen, und er ernährt sich nur von einem Stück Brot mit Getreidekleie. Scham und Schande!
Solch eine Situation kann sich bei einem irdischen König ergeben, doch man kann solches unmöglich über den Schöpfer sagen, dem natürlich kein Betrug eigen ist. Und weil dem so ist, bereitete er für uns zwei Wege der Entwicklung vor:
Einer von ihnen ist der Weg des Leidens. Dieser stellt die Reihenfolge der eigenständigen Entwicklung des Geschöpfes dar. Das Geschöpf ist dazu verpflichtet, ihr zu folgen, indem es von einem Zustand zum anderen übergeht, welcher mit dem vorausgehenden kausal, also durch die Abhängigkeit von Ursache und Wirkung, verbunden ist. So entwickeln wir uns sehr langsam bis hin zum Bewusstsein der Notwendigkeit, das Gute zu wählen, das Schlechte abzulehnen und uns für eine zielgerichtete Verbindung würdig zu zeigen, die vom Schöpfer erwünscht ist.
Dieser Weg ist allerdings lang hinsichtlich der Zeit und voller Leiden und Schmerz. Darum bereitete Er uns den leichten und angenehmen Weg der Tora und der Gebote, welcher in der Lage ist, uns in einer kurzen Zeit und ohne Leiden unserer Bestimmung würdig zu machen.
Daraus folgt, dass unser Endziel eine Reinigung zum Zweck der Verschmelzung mit dem Schöpfer ist, damit Er in uns wohnen kann. Und dieses Ziel ist verpflichtend und es gibt keinerlei Möglichkeit, ihm zu entkommen. Denn die Höhere Kraft lenkt uns streng auf zwei Wegen, die, wie erläutert wurde, den Weg der Leiden und den Weg der Tora darstellen. Doch in der uns umgebenden Wirklichkeit sehen wir, dass Er uns auf beiden Wegen lenkt, die von den Weisen als der „Weg der Bräuche (wortwörtlich: Weg der Erde)“ und der „Weg der Tora“ bezeichnet werden.
Das Wesen der Religion ist es, in uns den Sinn für die Erkenntnis des Bösen zu entwickeln
Und hier die Worte der Weisen: „Was für einen Unterschied macht es für den Schöpfer, ob man das Vieh am Nacken oder am Hals schlachtet? Denn die Gebote sind zu nichts anderem gegeben, als die Geschöpfe durch sie zu reinigen.“ Was die „Reinigung“ ist, wurde gut im Artikel „Gabe der Tora“ (Punkt 12) erläutert. Und schau nach, was dort geschrieben steht. Hier werde ich aber erklären, was das Wesen dieser Entwicklung darstellt, die durch die Beschäftigung mit der Tora und den Geboten erreicht wird.
Wisse, dass es die Erkenntnis des sich in uns befindlichen Bösen ist. Die Erfüllung der Gebote kann langsam und allmählich denjenigen, der sie erfüllt, feiner und erhabener machen. Und die wahre Höhe der Stufe der Verfeinerung besteht im Grad der Erkenntnis des Bösen in uns.
Denn seitens der Natur ist der Mensch bereit, alles Böse von sich abzustoßen and auszurotten. Darin sind sich alle Geschöpfe gleich, und der einzige Unterschied zwischen ihnen besteht lediglich in der Erkenntnis des Bösen. Ein weiter entwickeltes Geschöpf ist sich eines höheren Grades des Bösen in sich bewusst, es unterscheidet das Böse und stößt es von sich in einem größeren Maß ab. Und ein weniger entwickeltes Geschöpf verspürt in sich eine kleinere Stufe des Bösen, und stößt daher nur ein geringeres Maß des Bösen ab, während es den ganzen Schmutz in sich lässt, da es diesen nicht als Schmutz empfindet.
Um den Leser nicht zu verwirren, werden wir erläutern, was die Basis von Gut und Böse ausmacht, wie davon im Artikel „Gabe der Tora“ (Punkt 12) die Rede war. Die Basis alles Bösen ist nichts anderes als die Liebe zu sich selbst, die als „Egoismus“ bezeichnet wird. Ihr Naturell ist dem Schöpfer entgegengesetzt, in Dem es keinen Willen gibt, für Sich zu empfangen, denn Er ist nichts anderes als der „Wille zu geben“.
Und wie im Artikel „Gabe der Tora“ (Punkt 9 und 11) erklärt wurde, besteht das Wesen des Genusses im Grad der Ähnlichkeit mit den Eigenschaften des Schöpfers. Und das Wesen der Leiden und der Ungeduld besteht im qualitativen Unterschied zum Schöpfer. Dementsprechend ist uns der Egoismus zuwider, und es schmerzt uns das Bewusstsein, dass wir uns von den Eigenschaften des Schöpfers unterscheiden.
Doch dieses Gefühl der Widerwärtigkeit des Egoismus ist in jeder Seele unterschiedlich. Denn ein wilder, unentwickelter Mensch hält den Egoismus keineswegs für eine negative Eigenschaft und benutzt ihn daher öffentlich grenzenlos und ohne jede Scham. Vor den Augen aller beraubt und ermordet er skrupellos jeden, der sich in seiner Reichweite befindet. Ein etwas mehr Entwickelter empfindet seinen Egoismus bereits bis zu einer gewissen Stufe als böse und schämt sich, sich dieses Egoismus öffentlich zu bedienen – die Menschen zu bestehlen und zu morden, wo man es sehen kann – begeht aber weiterhin seine Verbrechen.
Und ein noch weiter Entwickelter empfindet den Egoismus tatsächlich als Gräuel, sodass er ihn in sich nicht mehr dulden kann und ihn von sich stößt und ihn, entsprechend dem Grad seiner Erkenntnis des Bösen gänzlich vertreibt, sodass er es nicht mehr wollen und können wird, auf Kosten anderer zu genießen. Und dann beginnen in ihm Funken der Liebe zum Nächsten zu erwachen, die als „Altruismus“ bezeichnet werden, welcher die allgemeine Eigenschaft des Guten ist.
Das entwickelt sich in ihm ebenfalls stufenweise. Zunächst entwickelt sich in ihm das Gefühl der Liebe zur Familie und zu seinen Nächsten sowie der Wunsch, sich um sie zu kümmern, wie es heißt:„Vor dem eigenen Fleisch kann man nicht fliehen.“ Und wenn er sich noch mehr entwickelt, so wächst in ihm der Grad des Gebens an alle, die ihn umgeben, an die Bewohner seiner Stadt und an sein Volk. Und so wächst er heran, bis sich in ihm schließlich die Nächstenliebe zur gesamten Menschheit entwickelt.
Bewusste und unbewusste Entwicklung
Und wisse, dass zwei Kräfte uns anstoßen und dazu antreiben, aufzusteigen, indem wir die Stufen der erwähnten Leiter erklimmen, bis wir ihre Spitze im Himmel erreichen – das Endziel der Gleichheit unserer Eigenschaften mit denen des Schöpfers. Der Unterschied zwischen diesen zwei Kräften besteht darin, dass eine von ihnen uns „unbewusst“ von hinten antreibt. Diese Kraft stößt uns von hinten an, und dies bezeichneten wir als den „Weg der Leiden“, oder den „Weg der Erde“ (Derech Erez).
Daraus entspringt die Philosophie der Moral, welche als Ethik bezeichnet wird. Sie basiert auf der empirischen Erkenntnis, das heißt auf der Prüfung mit Hilfe des praktischen Verstandes. Und das ganze Wesen dieses Systems stellt nichts anderes als die Summe der Schäden dar, welche vor unseren Augen von den keimenden Samen des Egoismus hervorgebracht wurden.
Diese empirischen Erfahrungen gelangten zu uns auf zufällige Weise, das heißt „für uns unbewusst“ und nicht durch unsere Wahl. Dennoch dienen sie ihrem Ziel recht überzeugend, da der Grad des Bösen, der in unseren Empfindungen in Erscheinung tritt und wächst, insofern wir uns seines Schadens bewusst sind, uns dazu zwingt, ihn zu meiden, und dadurch erreichen wir eine höhere Stufe der Leiter.
Die zweite Kraft treibt uns auf die „bewusste“ Weise an, das heißt diese Kraft wählen wir selbst. Diese Kraft zieht uns von vorn, und wir bezeichneten dies als den Weg der Tora und der Mizwot (Gebote). Denn durch die Erfüllung der Gebote sowie die Arbeit mit der Absicht, dem Schöpfer Genuss zu bereiten, entwickelt sich in uns diese Empfindung der Erkenntnis des Bösen mit riesiger Geschwindigkeit, wie dies im Artikel „Gabe der Tora“ (Punkt 13) beschrieben wurde.
Und hier gibt es einen doppelten Vorteil:
Erstens brauchen wir nicht zu warten, bis die Lebenserfahrungen beginnen, uns von hinten anzutreiben, denn jeder Stoß bedeutet Schmerz und Zerstörungen, die uns durch die Enthüllung des Bösen in uns zugefügt werden. Die Arbeit des Schöpfers dagegen entwickelt in uns die gleiche Erkenntnis des Bösen, doch ohne vorausgehende Leiden und Zerstörungen. Im Wohlbehagen und in der Freude, die wir während der reinen Ergebenheit für den Schöpfer verspüren, um Ihm Vergnügen zu schenken, entwickelt sich in uns ein relatives Verhältnis, welches uns erlaubt, die Niederträchtigkeit dieser Funken der Eigenliebe zu erkennen. Wir begreifen, wie sehr ihr Vorhandensein uns daran hindert, auf unserem Weg den Geschmack des Genusses am Beschenken des Schöpfers zu verspüren. Denn die stufenweise Empfindung der Enthüllung des Bösen entwickelt sich in uns vor dem Hintergrund der Empfindung von Genuss und völliger Ruhe, das heißt durch den Empfang des Genusses während der Arbeit für den Schöpfer. Und diese genussvolle und behagliche Empfindung entsteht in uns durch die Übereinstimmung mit dem Schöpfer.
Zweitens gewinnen wir Zeit, da Er „bei unserem Bewusstsein“ arbeitet, und uns somit hilft, mehr zu tun und die Zeit nach unserem Wunsch zu beschleunigen.
Die Religion dient nicht dem Nutzen der Geschöpfe, sondern dem Nutzen desjenigen, der sich bemüht.
Viele irren sich und vergleichen unsere heilige Tora fälschlicherweise mit der Ethik und Moral. Doch das geschieht aus dem Grunde, dass sie seinerzeit nicht den Geschmack der Religion gekostet haben. Und ich rufe sie auf: „Kostet und sehet, dass der Schöpfer gut ist.“ Ehrlich gesagt, sind sowohl die Ethik als auch die Religion auf eines ausgerichtet: Den Menschen aus dem Schmutz der vergiftenden Eigenliebe auf die erhabene Höhe der Nächstenliebe zu erheben.
Und damit sind sie so weit voneinander entfernt, wie die Gedanken des Schöpfers von den Gedanken der Geschöpfe. Denn die Religion entstammt den Gedanken des Schöpfers, und die Moral ist Frucht der Gedanken von Fleisch und Blut und ihrer Lebenserfahrung. Der Unterschied zwischen ihnen ist offensichtlich, sowohl in den benutzten Mitteln als auch im Endziel.
Denn die Erkenntnis von Gut und Böse, welche sich in uns bei der Nutzung des ethischen Systems entwickelt und entfaltet, hat einen relativen Bezug zum Erfolg der Gesellschaft, während die Nutzung der Religion in unserer Erkenntnis von Gut und Böse einen relativen Bezug zum Schöpfer allein hat – das heißt von der Unterscheidung vom Schöpfer bis hin zur Identifikation mit Seinen Eigenschaften, was als „Verschmelzung“ bezeichnet wird, wie das im Artikel „Gabe der Tora“ (Punkt 9 – 11) erläutert wurde.
Und der Grad der Entfernung des einen vom anderen wird durch die unterschiedlichen Ziele bestimmt. Das Ziel der Ethik besteht im Glück der Gesellschaft, wie es vom praktischen Verstand, welcher sich auf die Lebenserfahrung stützt, verstanden wird. Und letzten Endes verspricht das Ziel demjenigen, der es zu erreichen versucht, keinen Gewinn über den von der Natur vorgeschriebenen Rahmen hinaus. Wenn dem so ist, verlässt dieses Ziel nicht die Reichweite der Kritik, denn wer kann ein und für allemal dem Individuum die Gerechtigkeit des Maßes an Wohl beweisen, über welches es verfügt, um ihn zu zwingen, auf irgendeinen Teil des ihm nach seinem Verständnis Zukommenden zugunsten der Gesellschaft zu verzichten?
Im Unterschied dazu verspricht das religiöse Ziel demjenigen, der danach strebt, das Glück für den Menschen selbst. Denn wie wir bereits wissen, befindet sich ein Mensch, der die Liebe zum Nächsten erkannte, nach dem Gesetz der Gleichheit der Eigenschaften in der Verschmelzung mit dem Schöpfer und tritt gemeinsam mit Ihm aus seiner engen Welt, die voller Leiden und Stolpersteine ist, heraus in die weite und ewige Welt des Gebens an den Schöpfer und an die Geschöpfe.
Noch ein berühmter und sehr in die Augen stechender Unterschied, der für die Tora spricht, besteht darin, dass sich das ethische System nach dem Prinzip richtet, das Wohlwollen der Menschen zu erreichen, was einer Pacht (Miete) gleicht, die sich am Ende für den Menschen lohnt. Und die Gewohnheit des Menschen an solche Arbeit lässt ihn noch nicht einmal auf die Stufen der Ethik aufsteigen, da er an Arbeit gewöhnt ist, die von der Umgebung gut belohnt wird, die für seine guten Taten zahlt.
Derjenige aber, der sich mit der Tora und den Geboten beschäftigt, um dem Schöpfer Genuss zu schenken, ohne jegliche Belohnung zu erhalten, erklimmt tatsächlich die Stufen der Moral, wie dies auch erforderlich ist. Denn er bekommt keinerlei Bezahlung auf seinem Wege, während er Körnchen um Körnchen das Notwendige sammelt, um eine große Rechnung für den Erwerb einer anderen Natur zu begleichen – des Gebens an den Nächsten – ohne jegliches Empfangen für sich, außer zur Aufrechterhaltung der eigenen Existenz.
Nur dann werden wir uns tatsächlich von allen Zwängen der Natur befreien. Denn wenn einem Menschen jegliches Empfangen für sich zuwider ist und seine Seele von allen überflüssigen und kleinlichen Vergnügungen des Körpers frei ist und er nicht danach strebt, Ehre oder Ähnliches zu erlangen, dann lebt er frei in der Welt des Schöpfers. Und es ist garantiert, dass ihm hier niemals Schaden drohen wird. Denn der ganze Schaden, den der Mensch verspürt, ereilt ihn nur dann, wenn er für sich empfängt – was in ihn eingemeißelt ist – und das muss man gut verstehen.
Somit ist klar, dass das Ziel der Religion darin besteht, dem Menschen zu dienen, der sich bemüht und sie ausübt, und nicht etwa den Geschöpfen und deren Nutzen. Und sogar wenn alle seine Handlungen zu deren Nutzen dienen, und sie alle seine Handlungen bestimmen, so ist dies lediglich ein Mittel zur Erreichung des erhabenen Ziels – die Übereinstimmung mit dem Schöpfer. Und somit ist auch klar, dass das Ziel der Religion in dieser Welt im Leben selbst verwirklicht wird. Und man lese aufmerksam den Artikel „Gabe der Tora“, denjenigen Teil, in dem von den Zielen der Gesellschaft und des Individuums die Rede ist.
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