Die Bürgschaft (Arwut)

Von Yehuda Ashlag

„Ganz Israel ist füreinander verantwortlich, einer für den anderen!“ (Traktate Sanhedrin 27b, Shawuot 39)

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Wir sprechen hiermit über Arwut (Gegenseitige Bürgschaft), als ganz Israel füreinander verantwortlich wurde. Denn die Tora wurde ihnen erst übergeben, als jeder einzelne von ihnen gefragt worden war, ob er die Mizwa (das Gebot), andere zu lieben, im vollen Ausmaß der Bedeutung der Worte „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ auf sich nehmen würde (wie in Punkt 2 und 3 beschrieben; studiere es dort tiefgründig). Das bedeutet, dass jeder Einzelne in Israel es auf sich nahm, für jedes Mitglied des Volkes zu sorgen, zu arbeiten und all deren Bedürfnisse zu befriedigen; und zwar im gleich großen Ausmaß, wie es in jeden hineingelegt ist, sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern – und um nichts weniger.
Und erst als das ganze Volk einstimmig zusagte und sprach: „Alles, was der Ewige gesagt hat, wollen wir tun und hören” (Exodus 24, 7), nahm jedes Mitglied Israels die Verantwortung auf sich, dass es keinem einzigen Mitglied des Volkes an etwas fehlen würde, und erst dann wurden sie würdig, die Tora zu empfangen – und nicht zuvor.

Durch diese allumfassende Verantwortlichkeit wurde jedes Mitglied des Volkes von den Sorgen über seine eigenen körperlichen Bedürfnisse befreit und konnte so die Mizwa „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ in ihrem ganzen Ausmaß und ihrem vollen Umfang befolgen und jedem hilfsbedürftigen Mitglied alles geben, was er besaß, da er sich weiter nicht mehr um seine eigene Existenz kümmern musste; denn er wusste nun, dass sechshunderttausend treue liebende Freunde bereitstehen, um für ihn zu sorgen.

Aus diesem Grund waren sie zu Abrahams, Isaaks und Jakobs Zeit nicht bereit, die Tora zu bekommen, sondern erst, als sie aus Ägypten ausgezogen waren und ein vereintes Volk geworden waren. Erst dann ergab sich die Möglichkeit, dass jedem die Befriedigung all seiner Bedürfnisse, ohne den geringsten Zweifel daran zu haben, garantiert werden konnte.

Solange sie sich jedoch noch mit den Ägyptern vermischten, wurde ein Teil ihrer Bedürfnisse zwangsläufig in die Hände dieser wilden Fremden gegeben, die von Eigenliebe durchdrungen waren. Der Teil, der in die Hände der Fremden gegeben wird, ist deshalb für einen Menschen aus Israel nicht abgesichert, weil seine Freunde nicht in der Lage sind, für diese Bedürfnisse zu sorgen, da sie sie nicht besitzen. Denn solange der Einzelne nur an sich selbst denkt, kann er das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ nicht einmal ansatzweise einhalten.

Es ist offensichtlich, dass die Schenkung der Tora, bis zum Zeitpunkt, als sie aus Ägypten ausgezogen waren und ein selbstständiges Volk geworden waren, verzögert werden musste; das heißt, bis all ihre Bedürfnisse aus dem Eigenen, ohne fremde Hilfe, befriedigt waren, was sie dazu befähigte, die obige Arwut zu übernehmen. Erst dann wurde ihnen die Tora gegeben. Aus diesem Grund ergibt sich, dass sogar nach dem Empfang der Tora, wenn ein paar wenige aus Israel ohne Rücksicht auf ihre Freunde betrügen und in die Abgründe der Selbstsucht zurückfallen, ganz Israel um diese Menge an Bedürfnissen belastet wird, die in den Händen dieser wenigen liegen, und dass sie dafür Sorge tragen müssen.

Da diese wenigen in keiner Weise Mitgefühl für ihre Mitmenschen zeigen wollen, wird ganz Israel an der Erfüllung der Mizwa, seinen Nächsten zu lieben, gehindert. Daraus ergibt sich, dass jene Widersacher diejenigen, die die Tora und die Mizwot befolgen, dazu zwingen, im Schmutz der Eigenliebe zu verweilen, da sie ohne deren Hilfe das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ nicht befolgen und ihre Liebe nicht vollenden können.

Daraus erkennt man, dass ganz Israel füreinander verantwortlich ist, einer für den anderen, sowohl in positiver wie auch in negativer Hinsicht. In positiver Hinsicht können sie die Tora und die Mizwot lediglich restlos befolgen, wenn sie solange füreinander bürgen, bis sich jeder um die Bedürfnisse seines Freundes kümmert und sorgt, was weiterhin bedeutet, ihrem Schöpfer Zufriedenheit zu schenken (Punkt 13). Und auf der negativen Seite können wir erkennen, dass, wenn ein Teil des Volkes die Bürgschaft nicht einhalten will und sich in Selbstsucht ergötzt, der Rest des Volkes gezwungenermaßen in den Schmutz und den Abgrund eingetaucht bleibt, ohne jemals einen Ausweg zu finden.

18) Daher beschrieb der Tana (Rabbi Shimon Bar Yochai) diese Arwut mit dem Beispiel, als sich zwei Personen in einem Boot befanden. Und als der eine von ihnen plötzlich begann, ein Loch in das Boot zu bohren, fragte der Freund: „Wieso bohrst Du ein Loch?“, und der andere antwortete: „Was geht Dich das an, ich bohre unter mir, nicht unter Dir“, worauf der erste Mann antwortete: „Du Idiot, wir werden beide ertrinken!“ (Wajikra Rabba, Kapitel 4)

Daraus lernen wir, dass solange diese Widersacher in Eigenliebe schwelgen, diese durch ihr Handeln eine eiserne Wand aufbauen, welche diejenigen, die die Tora befolgen möchten, daran hindern, selbst damit zu beginnen, die Tora und die Mizwot im Maße von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”, restlos zu befolgen. Denn dies ist die Leiter, um mit Ihm Dwekut (Verschmelzung) zu erreichen. Wie treffend war also die Bemerkung: „Du Idiot, wir beide werden gemeinsam ertrinken!“

19) Rabbi Elazar, Sohn von Rabbi Shimon, verdeutlicht dieses Konzept von Arwut (Bürgschaft) noch weiter, indem er erklärt, dass es nicht genügt, dass ganz Israel füreinander verantwortlich ist, sondern dass stattdessen die ganze Welt in diese Bürgschaft mit eingeschlossen werden muss. Hierin besteht kein Widerspruch, denn um einen Anfang machen zu können, die Tora zu befolgen und die Welt zu korrigieren, wird jeder zustimmen, dass es ausreicht mit einem Volk zu beginnen, denn es ist unmöglich mit allen gleichzeitig zu beginnen. Wie überliefert ist, ging der Ewige mit der Tora zu allen Völkern, doch sie wollten diese nicht empfangen, was bedeutet, dass sie bis zum Hals in Eigenliebe steckten. Einige durch Ehebruch, andere durch Raub, Mord und anderes, sodass es zu diesem Zeitpunkt unmöglich war, sie zu überzeugen oder gar zu fragen, ob sie zustimmen würden, von der Eigenliebe zurückzutreten.

Daher fand der Schöpfer kein Volk und keine Sprache, welche befähigt gewesen wären, die Tora zu empfangen, außer den Söhnen Abrahams, Isaaks und Jakobs, auf denen die Verdienste ihrer Väter ruhten. Wie unsere Weisen sagten: „Die Väter befolgten die ganze Tora, sogar schon, bevor sie ihnen gegeben wurde“, was bedeutet, dass sie aufgrund der Erhabenheit ihrer Seelen imstande waren, alle Wege des Ewigen zu erkennen und zu beschreiten, im Aspekt der Spiritualität der Tora. Dies wurde ihnen durch die Hingabe an Ihn ermöglicht, ohne vorher den praktischen Teil der Tora, der die körperliche Reinigung betrifft, benötigt zu haben, da sie keine Möglichkeit hatten, diesen zu befolgen, wie in „Matan Tora“, Punkt 16, beschrieben wurde.

Und zweifellos wirkten sich die körperliche Reinheit und die seelische Erhabenheit unserer heiligen Väter auf ihre Söhne und auf die Söhne ihrer Söhne aus. Ihr Verdienst spiegelte sich in der Generation wider, in der alle ihre Mitglieder die erhabene Arbeit auf sich nahmen und jeder klar und deutlich zustimmte: „Wir wollen es tun und hören.“ Deshalb wurden wir aus Notwendigkeit heraus unter allen Völkern zu einem Am Segula [1](auserwählten Volk) ausgewählt.

Daraus folgt, dass nur die Mitglieder des Volkes Israel die geforderte Arwut auf sich nahmen und kein anderes der Völker dieser Welt, denn sie hatten keinen Anteil daran. Dies ist einfach, denn es ist die Wirklichkeit.

Und wie konnte Rabbi Elasar dem nicht zustimmen?

20) Doch das Ende der Korrektur der Welt wird erfolgen, wenn sich alle Völker dieser Welt dieser – seiner (des Schöpfers) Arbeit stellen. Wie geschrieben steht: „Und der Ewige wird König sein über alle Lande: An diesem Tag wird der Ewige der Einzige sein und sein Name der Einzige. (Sacharja 14, 9). Und es heißt: „An diesem Tag“ und nicht eher. Und es heißt auch weiter: „Denn das Land wird voll der Erkenntnis des Ewigen sein… (Jesaja 11, 9) …und alle Völker werden zu Ihm strömen (Jesaja 2, 2)“.

Dennoch gleicht die Aufgabe Israels gegenüber der Welt der Rolle unserer heiligen Väter gegenüber dem israelitischen Volk. Das heißt, der Verdienst unserer Väter wirkte auf uns und verhalf uns, uns zu entwickeln bis wir würdig wurden, die Tora zu empfangen. Gäbe es nicht unsere Väter, welche die Tora befolgten, bevor sie uns übergeben wurde, so wären wir um nichts besser als alle anderen Völker (Punkt 12).

Und so hängt es vom israelitischen Volk ab, durch das Befolgen der Tora und der Mizwot liShma [in der Absicht zu geben], sich und alle Menschen in der Welt zu befähigen, sich so zu entwickeln, dass sie die erhabene Arbeit, den Mitmenschen zu lieben, auf sich nehmen. Diese Arbeit ist die Leiter, um das Ziel der Schöpfung, Dwekut (Verschmelzung) mit Ihm zu erreichen.

Somit verhilft jedes einzelne Gebot – welches von jedem Israeliten, um seinem Schöpfer Zufriedenheit zu schenken, ausgeübt wird, und nicht um der eigene Befriedigung willen –, die Entwicklung aller Menschen der Welt voranzubringen. Denn die Entwicklung geschieht nicht auf einen Schlag, sondern sie schreitet allmählich, Schritt für Schritt, voran, bis das Ausmaß erreicht ist, welches die ganze Welt zur ersehnten Reinheit bringen kann. Das ist es, was unsere Weisen als „die Neigung der Waage zur Seite des Verdienstes (des Freispruchs) hin“ bezeichnen, was bedeutet, dass die benötigte Reinheit erreicht wurde. Und sie verglichen dies weiter mit Waagschalen, wobei das Austarieren der Gewichte zur Erreichung des gewünschten Gleichgewichts führt.

21) Dies sind die Worte von Rabbi Elasar, Sohn von Rabbi Shimon, der sagte, dass das Urteil über die Welt nach der Mehrheit gefällt wird. Dies bezieht sich auf die Rolle des israelitischen Volkes, die Welt zu einer bestimmten Erhabenheit zu befähigen, bis diese würdig geworden ist, die Arbeit des Schöpfers auf sich zu nehmen. Um nichts weniger würdig als Israel selbst es zu jener Zeit gewesen war, als es die Tora empfing. In der Sprache der Weisen heißt das, dass die Tugenden die Mehrheit erreichten, indem sie das Gewicht von der Waagschale der unreinen Selbstliebe wegnahmen.

Und es ist klar, dass wenn die Waagschale der Verdienste, nämlich das hohe Verständnis dessen, wie gut es ist, den Mitmenschen zu lieben, schwerer wird, und die Waagschale der schmutzigen Schuld überwiegt, sie zur Entscheidung und zum Einverständnis fähig werden, „wir wollen tun und hören“ zu sagen, wie Israel es getan hat. Doch zuvor, dass heißt, bevor sie die Mehrheit an Verdiensten erlangen, hält ihre Eigenliebe sie naturgemäß davon ab, diese Bürde auf sich zu nehmen.

Unsere Weisen sagten: „Wenn einer eine Mizwa ausführt, neigt er die Waage für sich selbst und für die ganze Welt zur Seite des Verdienstes hin“, was bedeutet, dass er seinen eigenen Anteil zu Israels allgemeinem Beschluss beiträgt, vergleichbar mit jenem, der die Saat wägt und jedes Korn einzeln auf die Waagschale setzt, bis genügend Körner hinzugefügt sind, um das Gewicht zu wenden. Natürlich beteiligt sich jeder einzelne an diesem Wendeprozess, denn anders würde sich dies nie vollenden. Doch gerade deswegen sagen sie über die Handlung eines Einzelnen Israels, dass er dabei für die ganze Welt die Waage zur Seite des Verdienstes neigt. Denn sobald sich die Neigung der Waage für die gesamte Welt verwirklicht haben wird, wird jeder Einzelne daran teilgenommen haben; anders würde sich dies nie vollenden.

Demnach sieht man, dass Rabbi Elasar, Sohn von Rabbi Shimon, die Worte unserer Weisen, dass ganz Israel füreinander verantwortlich sei, nicht abstreitet. Hingegen spricht Rabbi Elasar über die Korrektur der ganzen Welt, wenn die Zeit, die Korrektur zum Abschluss zu bringen, gekommen ist, während unsere Weisen über die Gegenwart sprechen, als nur Israel die Tora auf sich nahm.

22) Und genau darüber spricht Rabbi Elasar, Sohn von Rabbi Shimon, in Bezug auf den Vers: „Durch einen Sünder geht viel Gutes verloren“; denn es wurde bereits aufgezeigt (Punkt 20), dass die Begeisterung, die ein Mensch mittels der Mizwot zwischen Mensch und Gott gewinnt, genau die gleiche Begeisterung ist, wie er sie durch die Mizwot zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen gewinnt. Denn er ist verpflichtet, ohne Hoffnung auf Eigenliebe, alle Mizwot liShma (um der Tora Willen) auszuführen, ohne sich Glanz und Ehre oder Ähnliches als Belohnung für seine Mühen zu erhoffen. Durch diese erhabene Tatsache verschmelzen die Liebe Gottes und die Liebe zum Mitmenschen und werden eins (siehe Punkt 15).

Daraus ergibt sich, dass er auf der Leiter der Nächstenliebe einen bestimmten Fortschritt für die ganze Welt erzielt, da dieser Einzelne durch seine Taten, ob große oder kleine, eine gewisse Stufe erreicht und schlussendlich die Zukunft mit beeinflusst, indem die Balance der Welt zum Rechten hin gewendet wird, da sein Anteil zum Gewicht hinzugefügt wird (wie im Gleichnis vom Punkt 20 über den Sesam beschrieben wurde).

Zudem neigt jener, welcher eine Sünde begeht – der seine unreine Eigenliebe nicht bewältigen und besiegen kann, welche ihn dazu bringt, zu stehlen oder Ähnliches zu tun – für sich und für die ganze Welt die Waage zur Schuld hin. Denn mit der Enthüllung der unreinen Selbstsucht wird die niedrige Natur der Schöpfung bestärkt, und er entwendet dabei eine gewisse Menge vom Richtigen, genau so, wie wenn eine Person das Sesamkorn von der Waagschale wegnehmen würde, welches sie zuvor hingelegt hat, was die falsche Seite der Waage um dieses eine Korn belastet. Daraus ergibt sich, dass diese Person die ganze Welt rückwärts schreiten lässt. Wie gesagt wurde: „Durch einen Sünder geht viel Gutes verloren“, denn er konnte sein unbedeutendes Verlangen nicht besiegen und drängte die Spiritualität der gesamten Welt zu einem Rückschritt.

23) Durch diese Worte können wir klar verstehen, wie obige Erläuterung (Punkt 5) – die Tora sei im Besonderen dem israelitischen Volk übergeben – gemeint ist, denn es ist unbestreitbar und eindeutig, dass das Ziel der Schöpfung auf den Schultern der gesamten Menschheit ruht, ob schwarz, weiß oder gelb, ohne jeglichen wesentlichen Unterschied.

Doch aufgrund des Abstiegs der menschlichen Natur auf die tiefste Stufe, auf die Ebene der Eigenliebe, die über die gesamte Menschheit herrscht, gab es keinen Zugang zu den Völkern, um mit ihnen zu verhandeln oder um sie zu überzeugen – nicht einmal in der Form einer leeren Versprechung –, die eingeschränkte Welt zu verlassen und sich in den grenzenlosen Raum zu begeben, den Mitmenschen zu lieben. Mit keinem außer dem israelitischen Volk war dies möglich, welches im grausamen Königreich Ägyptens über schreckliche vierhundert Jahre lang versklavt gewesen war.

Unsere Weisen sagten: „Wie das Salz das Fleisch verfeinert, so verfeinert das Leid den Menschen“, das bedeutet, dass sie ihren Körper bedeutend reinigen konnten. Und zudem half ihnen auch die Reinheit ihrer heiligen Väter (siehe Punkt 16), was das Wichtigste ist, wie einige Verse der Tora bezeugen.

Diese zwei Vorbedingungen befähigten sie dazu, was auch erklärt, wieso über sie in der Einzahl gesprochen wird: „Und Israel lagerte dort vor dem Berg“ (Exodus 19, 2), was unsere Weisen als „ein Mensch und ein Herz“ interpretieren.

Dies ist deshalb so, da sich jede einzelne Person des Volkes vollständig von der Eigenliebe loslöste und einzig seinen Freund begünstigen wollte, wie wir oben (Punkt 16) bezüglich der Mizwa ‚Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst’ aufzeigen konnten. Daraus ergibt sich, dass sich alle Individuen des Volkes vereinten und zu einem Herzen und zu einem Menschen wurden. Erst dann waren sie dazu ermächtigt worden, die Tora zu empfangen.

24) Auf diese Weise und entsprechend den zu erfüllenden Vorraussetzungen, wurde die Tora einzig und allein dem israelitischen Volk, den Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob, gegeben, denn es war unvorstellbar, dass sich irgendein Fremder daran beteiligen würde. Aus diesem Grund wurde das israelitische Volk als eine Art Tor (Durchgang, Passage) erschaffen, durch das die Funken der Reinheit über die ganze Menschheit scheinen sollen.

Und diese Funken vervielfältigen sich dann, bis die gewünschte Menge erreicht ist; dass heißt, bis sie soweit entwickelt sind, das Vergnügen und den Frieden zu verstehen, welche im Kern der Liebe zum Nächsten stecken. Denn nun können sie die Waage zur Seite des Verdienstes neigen und werden sich selbst der Bürde stellen, und die Waagschale der Schuld wird aus der Welt ausgelöscht werden.

25) Dennoch ist das oben Besagte (Punkt 16), weshalb die Tora aufgrund des Gebots „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ – was die Achse ist, um die sich alle Mizwot drehen – nicht unseren Vätern gegeben wurde, zu vervollständigen. Damit dies geklärt und gedeutet werden kann, ist zu verstehen, dass dies nicht durch den Einzelnen, sondern lediglich durch die Zustimmung eines ganzen Volkes befolgt werden kann.

Das ist der Grund, wieso es bis zum Auszug aus Ägypten dauerte, bis sie würdig geworden waren, die Torazu befolgen. Erst da wurden sie gefragt, ob jeder Einzelne des Volkes bereit sei, diese Mizwa auf sich zu nehmen. Und erst als alle zusagten, wurde ihnen die Tora übergeben. Dennoch müssen wir zunächst klären, wo in der Tora steht, dass sie alle zusagten, bevor sie die Tora erhielten.

26) Bedenke, dass diese Tatsache für jede Person in der Aufforderung, die Gott vor dem Empfang der Toradurch Moses an Israel sandte, offensichtlich ist, denn es heißt: „Und nun, wenn du meiner Stimme wirklich folgst und meinen Bund hälst, dann sollst du mein Schatz sein vor allen Völkern: Denn die ganze Welt ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Kindern Israel sagen sollst.“ Und Moses kam und berief die Ältesten des Volkes ein und legte ihnen all die Worte vor, welche der Ewige ihm geboten hatte, und alles Volk antwortete einmütig und sprach: „Wir werden alles tun, was der Ewige sagt.“ Und Moses überbrachte dem Ewigen die Worte des Volkes (Exodus 19, 5).

Diese Worte scheinen jedoch nicht mit dem Zweck, den sie erfüllen sollen, übereinzustimmen, denn das allgemeine Verständnis sagt uns, dass, wenn eine Person ihrem Freund eine Arbeit anbietet, sie ihm aufzeigen muss, was er zu tun hat und welchen Lohn er dafür bekommt, damit er zustimmen kann. Erst dann kann sich der Freund entscheiden, ob er die Arbeit annehmen oder ablehnen will.

Doch wir finden hier weder eine Beschreibung für die zu verrichtende Arbeit noch die entsprechende Belohnung, denn es heißt: „Wenn ihr meiner Stimme wirklich folgt und meinen Bund haltet…“. Er erklärt uns weder die Stimme näher noch was der Bund beinhaltet. Dann sagt Er: „Dann sollst du mein Schatz sein vor allen Völkern: Denn die ganze Welt ist mein“. Doch wir können aus diesen Worten nicht entnehmen, ob Er uns zur Arbeit befiehlt, um für alle Menschen eine Hilfe[2] zu sein, oder ob das ein gutes Versprechen an uns ist.

Und wir müssen auch die Verbindung verstehen, die hier zum Schluss des Geschriebenen „Denn die ganze Welt ist mein“ besteht, welches drei Übersetzungen hat: Onkelos, Jonathan ben Usiel und den Jerusalemer Talmud. Und alle Auslegungen von Rashi, Ramban (Nachmanides) und so weiter, steuern darauf hin, diesen Satz zu berichtigen, und Ibn Esra sagt im Namen von Rabbi Marinos, dass das Wort „denn“ „obwohl“ bedeutet und interpretiert es als „dann sollst du mein Schatz sein vor allen Völkern: Obwohl die ganze Welt mein ist“. Ibn Esra selbst neigt dazu, dem zuzustimmen, doch diese Ausführung stimmt nicht mit derjenigen unserer Weisen überein, welche sagten, dass „denn“ dazu dient, vier Bedeutungen auszudrücken: „auch“, „sodass nicht“, „aber“, „sodass“.

Zu diesen fügt er einen fünften Begriff hinzu: „obwohl“. Zum Schluss heißt es: „Und du sollst ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“. Doch auch hier ist im Text nicht klar ersichtlich, ob dies ein Gebot, mit dem man sich eingehend befassen muss oder ein lohnendes Versprechen ist. Die Worte „ein Königreich von Priestern“ werden weder wiederholt noch irgendwo in den Heiligen Schriften erklärt. Somit sollten wir uns hauptsächlich darauf konzentrieren, den Unterschied zwischen „ein Königreich von Priestern“ und „ein heiliges Volk“ zu definieren. Dadurch, dass „Priestertum“ gewöhnlicherweise die gleiche Bedeutung trägt wie „Heiligkeit“, und es daher einleuchtend ist, dass ein Königreich, in dem jedermann Priester ist, auch ein heiliges Volk sein muss, scheinen die Worte „heiliges Volk“ überflüssig zu sein.

27) Dennoch lernen wir aus den bereits erarbeiteten Interpretationen die wahre Bedeutung der Worte, denn sie sind in der Form einer Verhandlung mit Angebot und Zustimmung zu verstehen. Das bedeutet, dass Er ihnen durch diese Worte die ganze Form und den Inhalt der Arbeit aufzeigt, welche die Tora und die Mizwotbeinhalten, aber auch die Belohnung, die dadurch erfolgt.

Die ganze Arbeit der Tora und Mizwot wird in den Worten ausgedrückt: „Und du sollst ein Königreich von Priestern für mich sein“, denn „Königreich von Priestern“ bedeutet, dass ihr alle, vom Jüngsten bis zum Ältesten, wie Priester seid. Genauso, wie sie in dieser körperlichen Welt über keinen Anteil am Land und keinen Besitz verfügen, denn der Ewige ist ihr Besitz, so wird das ganze Volk dafür sorgen, dass die ganze Erde und alles in ihr dem Ewigen ergeben sein wird. Jedes Individuum auf ihr wird daher nur noch ausschließlich mit der Absicht arbeiten, die Gebote Gottes zu befolgen und die Bedürfnisse seines Nächsten zu befriedigen, damit keine Person sich jemals mehr um sich selbst sorgen muss.

Demzufolge werden die weltlichen Arbeiten wie das Ernten, das Bestellen des Feldes und Ähnliches exakt wie Opfergaben angesehen, welche die Priester im Tempel ausführen. Worin unterscheidet es sich, ob ich die positive[3] Mizwa erfülle, dem Ewigen ein Opfer darzubringen, oder ob ich die positive Mizwa „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ befolge? Daraus ergibt sich, dass derjenige, der sein Feld mit der Absicht erntet, seinen Mitmenschen zu ernähren, das Gleiche tut wie derjenige, der dem Ewigen Opfergaben bringt. Wie wir bereits oben (Punkt 14, 15) sehen konnten, erscheint darüber hinaus die Mizwa „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wichtiger zu sein als diejenige des Darbringens der Opfergaben.

Gewiss ist das noch nicht alles, denn die ganze Tora und die Mizwot wurden einzig mit der Absicht gegeben, Israel zu reinigen, was die Reinigung des Körpers (siehe Punkt 12) bedeutet, nach welcher die wahre Belohnung erreicht wird, mit Ihm zu verschmelzen, was das Ziel der Schöpfung ist. Genau diese Belohnung wird in den Worten „ein heiliges Volk“ ausgedrückt, denn durch das Verschmelzen mit Ihm werden wir geheiligt, da es heißt: „Ihr sollt heilig sein, denn ich, der Ewige, euer Gott bin heilig“ (Levitikus 19,2).

Man sieht, dass die Worte „ein Königreich von Priestern“ vollständig die Arbeit um die Achse „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ausdrücken; und diese Worte bedeuten, dass dies ein Königreich ist, in dem alle Priester sind und ihr einziger Besitz der Ewige ist und sie nichts Eigenes am Weltlichen besitzen. Unfreiwillig müssen wir anerkennen, dass dies die einzige Definition ist, durch die wir die Worte „ein Königreich von Priestern“ verstehen können. Man kann dies nicht so interpretieren, indem es in Bezug zu „Opfergaben auf dem Altar“ gebracht wird, denn dies wäre hinsichtlich des ganzen Volkes unvorstellbar. Wer hätte dann die Opfer dargebracht, [wenn alle Priester wären]?

Und wer würden hinsichtlich der Gaben der Priesterschaft die Geber sein? Außerdem wurde hinsichtlich der Heiligkeit der Priester gesagt: „Ein heiliges Volk“. Deswegen muss dies bestimmt bedeuten, dass allein Gott ihr Besitz ist, und dass sie auch für sich selbst keinerlei materielle Besitztümer haben,im vollen Ausmaß der Worte„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, welche die ganze Tora umfassen. Und die Worte „heiliges Volk“ drücken die vollständige Belohnung aus, welche Dwekut (Verschmelzung) ist.

28) Nun können wir die vorherigen Worte restlos verstehen, denn Er sagt: „Daher, wenn ihr meiner Stimme gehorcht und meinen Bund haltet“, Das heißt, einen Bund eingehen, basierend darauf, was ich euch hier sage; Das bedeutet, „und ihr sollt mir ein besonderes Heilmittel sein unter allen Völkern“. Das bedeutet, dass ihr mein besonderes Heilmittel sein sollt, durch das die Funken der Verfeinerung und Reinigung des Körpers zu allen Menschen und Nationen strömen. Da die Nationen dieser Welt noch nicht bereit dafür sind, brauche ich ein Volk, welches damit beginnt und als Heilmittel für alle anderen Nationen dient.“

Darum sagt Er zum Schluss: „Denn die ganze Welt ist mein“, das heißt, alle Menschen der Welt gehören mir und sind dafür bestimmt, sich so an mich zu binden, wie ihr es tut, wir oben in Absatz 20 erwähnt.

Doch solange sie noch nicht bereit sind, diese Aufgaben zu erfüllen, brauche ich ein rechtschaffenes Volk. Und wenn ihr dem zustimmt, das heißt, das besondere Volk unter allen Völkern zu sein, dann gebiete ich euch, dass „ihr mir ein Königreich von Priestern sein sollt“, und das ist die Liebe zum Nächsten in ihrer endgültigen Form von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, die die Quintessenz der gesamten Tora und der Gebote ist. „Und ein heiliges Volk“, das ist der Lohn, in seiner letzten Form von „und ihm anzuhängen“, der alle Belohnungen umfasst, die nur vermittelt werden können.

So interpretieren unsere Weisen den Schlusssatz: „Dies sind die Worte, die du zu den Kindern Israels sprechen sollst.“ „Dies sind die Worte“, nicht mehr und nicht weniger. Hätte man Moses zutrauen können, dass er die Worte des Ewigen mindern oder ergänzen würde, sodass er hätte gewarnt werden müssen? Derartiges finden wir in der ganzen Tora nicht; im Gegenteil, denn die Tora sagt über ihn: „Denn er ist der Zuverlässigste in meinem ganzen Haus“ (Numeri 12, 7).

29) Nun können wir die endgültige Form der Arbeit, wie sie in den Worten „ein Königreich von Priestern“ erklärt wurde, vollständig begreifen, denn dies ist die endgültige Definition von „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Hierdurch würde es verständlich, dass es tatsächlich für Moses möglich war, in Erwägung zu ziehen, zu zögern und ihnen nicht sofort die Form des Dienstes in einer so großen und erhabenen Unterscheidung zu offenbaren, aus Angst, dass die Kinder Israels nicht bereit wären, sich von allen materiellen Besitztümern zu lösen und all ihren Besitz und ihr Vermögen dem Herrn zu übergeben, wie es die Worte „ein Königreich von Priestern“ befehlen.

Dies ist vergleichbar mit dem, wie der RAMBAM (Maimonides) schrieb: Dass man Frauen und kleinen Kindern nichts über den Inhalt der reinen Arbeit erzählen darf, welche in der Absicht erfolgen muss, keine Belohung zu erhalten, und es besser ist abzuwarten, bis sie älter, weiser und mutiger werden, diese auszuführen. Daher warnte der Ewige Moses „nicht weniger“ zu sagen, sondern ihnen die wahre Natur mit all ihrer erhabenen Unterscheidung vorzustellen, wie sie in den Worten „ein Königreich von Priestern“ ausgedrückt wird.

Doch auch hinsichtlich der Belohnung, die in den Worten „ein heiliges Volk“ definiert ist, hätte Moses Weiteres über die Annehmlichkeiten und die erhabene Tiefgründigkeit aufklären können, welche durch Dwekut erfolgt. Er hätte sie dadurch überzeugen können, dem zuzustimmen und sich von weltlichem Besitz zu trennen. Daher wurde er davor gewarnt, nicht über die gesamte Belohnung, die in den Worten „ein heiliges Volk“ beinhaltet ist, zu sprechen.

Der Grund dafür ist, dass, wenn er ihnen über die wundersamen Dinge, die in der Essenz der Belohnung liegen, erzählt hätte, sie die Arbeit mit der Absicht angenommen hätten, die herrliche Belohnung zu bekommen. Dies würde als das Arbeiten zum eigenen Zweck, aus Eigenliebe, betrachtet werden, was als Folge den ganzen Zweck verfälschen würde (Punkt 13).

Wir sehen demnach, dass er in Bezug auf die Arbeit, welche durch die Worte „Ein Königreich von Priestern“ ausgedrückt wird, angehalten wurde, „nicht weniger“, und über das Maß der Belohnung, die in den Worten „ein heiliges Volk“ ausgesprochen werden, „nicht mehr“ zu sagen.

[1] Am-Volk, Segula – Heilmittel, Verdienst; Am Segula wird für gewöhnlich als „Auserwähltes Volk“ übersetzt, die Übersetzung ist aber nicht exakt

[2] Segula heißt auf Hebräisch Hilfs- und Heilmittel und bedeutet zudem auch Tugend. Baal HaSulam benutzt frei beide Begriffe
[3] Mizwa Asse ist ein Gebot, um eine gewisse Handlung auszuführen

 

überarbeitet, EY, 6.12.2023

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