Freier Wille

Von Dr. Michael Laitman

Gibt es einen freien Willen?

In einem alten Gebet heißt es: «Herr! Gib mir die Kraft, in meinem Leben das zu verändern, was ich ändern kann, den Mut, das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unter­scheiden.» Auf welche Dinge können wir in unserem Leben eigent­lich Einfluss ausüben? Haben wir ausreichend Hand­lungs­spielraum, um unser Leben und Schicksal zu beein­flussen? Warum wird dem Menschen das Wissen darüber nicht auf natürliche Weise in die Wiege gelegt? Obwohl Faulheit und gesunder Egoismus in unserer Natur liegen, wollen wir mit einem Minimum an Einsatz ein Maximum erreichen – führen aber im Gegen­satz zu den Tieren nutzlose Handlungen aus und irren uns ständig. Warum?

Könnte es sein, dass wir im Leben genau dort handeln, wo alles bereits vorprogrammiert ist, dort, wo unser Anteil eigentlich der passive sein sollte? Vielleicht sind die meisten Ereignisse unseres Lebens vorherbestimmt, alles, was geschehen sollte, ist bereits geschehen, und hat sich uns nur noch nicht offenbart, während wir aber immer noch der Ansicht sind, dass der Verlauf der Dinge von uns abhängt. Vielleicht sollten wir die Herangehensweise an unser Leben verändern und die Vorstellung aufgeben, dass wir im Leben etwas entscheiden können? Vielleicht müssen wir das Leben fließen lassen, uns zurücknehmen und nur in jenen Berei­chen handeln, die wirklich unserem Einfluss unterliegen? Das heißt, wählen, wo wir wirklich frei handeln können, und wo wir automatisch handeln, und es unnötig ist, sich zu kümmern?

Kinder verhalten sich unvernünftig, weil ihre Ent­wicklung von Natur aus unbewusst oder unter dem Ein­fluss von Instinkten verläuft. Ein Erwachsener setzt sich ein Ziel, und das Verlangen, es zu erreichen, verleiht ihm Energie. Offensichtlich irren wir uns gerade in der Bestimmung der Gren­zen unserer Möglichkeiten, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das heißt, wir wollen das Unmögliche erreichen oder etwas verändern, was nicht in unserer Macht steht. Die Natur gibt uns keine Auskunft darüber, in welchen Handlungen wir wirklich frei sind und bei welchen es sich lediglich um eine Illusion der Freiheit handelt. Sie erlaubt sowohl dem Individuum als auch der Menschheit als Ganzes, sich zu irren.

Ihr Ziel ist es, uns unserer Illusion zu berauben, wir hätten die Macht, irgendetwas in unserem Leben oder in uns zu verändern, damit wir alle im Zustand eines vollkommenen Verlorenseins und Orientierungslosigkeit landen, hinsichtlich der Frage: „Wie soll ich weiterleben?“. Erst dann würden wir innehalten und hinterfragen, worauf wir wirklich Einfluss ausüben können.

Das Wesen der Freiheit

Allgemein betrachtet kann man die Freiheit dem Natur­gesetz zurechnen, das alle Aspekte des Lebens durch­dringt. Wir sehen, dass Tiere in Gefangenschaft leiden. Da­ran können wir erkennen, dass die Natur mit der Ver­sklavung, ganz gleich welcher Kreatur, nicht einver­standen ist. Nicht umsonst führte die Menschheit jahrhundertelang Kriege, um (wenigstens) einen gewissen Grad an persön­li­cher Freiheit zu erreichen. Unsere Vorstellungen von Freiheit sind jedenfalls sehr vage und nebulös, und sobald wir in den Inhalt dieses Begriffes eintauchen, bleibt fast nichts von ihnen übrig. Denn bevor wir die „Freiheit des Individuums“ einfordern, müssen wir annehmen, dass jeder Mensch nach dieser Freiheit strebt und müssen weiters abklären, ob der Mensch in der Lage ist, einem freien Willen entsprechend zu handeln.

Unser Leben – zwischen Freuden und Leiden

Wenn wir die Handlungen des Menschen analysieren, entdecken wir, dass keine der Handlungen freier Natur ist, das heißt, sie erfolgen zwangsläufig. Denn die innere Natur des Menschen und die äußeren Umstände zwingen ihn dazu, nach angelegten Verhaltensmustern zu handeln. Von Natur aus stehen wir zwischen Freuden und Leiden, und es steht uns weder frei, Leiden zu wählen, noch Freude abzulehnen. Der einzige Vorteil des Menschen dem Tier gegenüber besteht darin, dass er ein entferntes Ziel erkennen und sich daher im Hinblick auf eine zukünftige Belohnung mit einem gewissen Grad an Leiden einverstanden erklären kann.

Tatsache ist, dass es sich dabei um nichts anderes als um rein berechnendes Tun handelt, wenn wir nach Abschätzung des Nutzens bereit sind, den Schmerz im Hinblick auf zukünftige Freuden zu ertragen. So unterziehen wir uns beispielsweise einem chirurgischen Eingriff und sind auch noch bereit, die hohen Kosten zu tragen. Auch sind wir bereit, uns viel Mühe zu geben und uns anzustrengen, um einen gut bezahlten Beruf zu erlernen. Es ist nur eine Berechnung, wie viel Leiden vom zu erwartenden Vergnügen abzuziehen ist, um ein gewisses positives „Überbleibsel“ zu gewinnen. Auf diese Weise sind wir alle programmiert.

Romantiker oder sich aufopfernde Menschen, die uns un­vernünftig und nicht berechnend erscheinen, sind einfach Menschen mit einer anderen Art der Berechnung. Für sie offenbart sich die Zukunft genau wie die Gegenwart, das heißt, die Vergangenheit und Wirklichkeit fließen so deut­lich in eins zusammen, dass sie schon heute bereit sind, in deren Namen solche Leiden hinzunehmen, die den anderen ungewöhnlich erscheinen, und die wir als ein Opfer, eine Heldentat empfinden.

Auch in diesem Fall führt unser Organismus eine bewusste oder unterbewusste Berechnung durch. Psycho­logen wissen längst, dass man in jedem Menschen seine Prioritäten ändern kann, ihn daran gewöhnen kann, seine Berechnungen so durchzuführen, dass aus dem größten Feigling ein Held wird. Man kann den Wert der Zukunft in den Augen jedes Menschen soweit steigern, dass er bereit wird, sich dafür mit beliebigen Entbehrungen einverstanden zu erklären. Daraus folgern wir, dass es erstens keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier gibt und wenn dem so ist, eine vernünftige und freie Wahl nicht existiert.

Von wem werden unsere Vergnügen und Freuden bestimmt?

Nicht nur, dass wir keine freie Wahl haben, wir können auch die Art des Vergnügens nicht selbst wählen. Welche Dinge uns erfreuen, entspringt nicht unserem eigenen, freien Willen, sondern wird durch die Wünsche anderer bestimmt. Wir wählen weder Mode, Lebens­weise noch Hobby, Freizeit oder Essen aus. Dies alles wird uns entsprechend den Wünschen und dem Ge­schmack der uns umgebenden Gesellschaft aufge­zwungen, und zwar nicht von dessen bestem Teil, sondern von der Mehrheit.

Wir ziehen es vor, uns einfacher zu verhalten, ohne uns durch etwas zu belasten. Aber unser ganzes Leben wird von Formalitäten von Geschmäcken und Umgangsformen der jeweiligen Gesellschaft bestimmt, die zu Gesetzen verwandelt werden, wie man zu leben und sich zu verhalten habe. Wenn dem so ist, wo bleibt dann unsere Frei­heit? Daraus geht hervor, dass keine unserer Taten belohnt oder bestraft wird.

Warum hält sich jeder Mensch für individuell? Was gibt es so Besonderes in jedem von uns? Welche unserer Eigenschaften können wir doch unabhängig und frei ändern? Sollte eine solche Eigenschaft existieren, müssen wir sie unbedingt finden und ans Licht bringen, diese vom Rest der Eigenschaften herausfiltern und sie entwickeln, weil sich der Rest zwangsweise entwickeln wird.

Vier Faktoren

Jedes erschaffene Wesen ist durch vier Faktoren bestimmt:

  1. Basis ist der primäre Baustoff des gegebenen Geschöpfes; daraus ist es entstanden. Unveränderliche Basiseigenschaften werden in der Reihenfolge von dessen Entwicklung dargestellt. Das Verrotten eines Weizenkorns in der Erde verursacht das Aufgehen eines neuen Weizenkeimes derselben Art. Das Korn verrottet und die äußere Form verschwindet völlig, ähnlich wie unser Körper in der Erde verwest. Aber seine Grundlage bleibt dieselbe und bildet einen neuen Keimling, ähnlich wie unsere Seele dazu gezwungen ist, in einem neuen Körper auf die Welt zu kommen und in ihm zu verweilen.
  2. Unveränderliche Eigenschaften der Basis (Grundlage).

Die Grundlage (hier das Weizenkorn) nimmt nie die Form anderer Getreidepflanzen (z.B. von Gerste) an, sondern immer ihre vorherige, verlorengegangene Form, das heißt die des Weizens. Es sind bestimmte Abweichungen in Quantität und Quali­tät des neuen Keimes möglich, die von der Umwelt ab­hängig sind: vom Boden, Dünger, Feuchtigkeit und Sonne. Aber die Grundlage der Form des Weizens, also sein bisheriges Wesen macht keine Veränderungen durch.

  1. Eigenschaften, die sich unter dem Einfluss äußerer Faktoren verändern.

Der Einfluss von äußeren Faktoren führt dazu, dass sich die Hülle des Wesens qualitativ verändert – das Korn bleibt zwar ein Korn, aber seine äußere Form verändert sich und ist von Umwelteinflüssen abhängig. Äußere Faktoren wirken ein und verbinden sich mit der Grundlage. Unter dem Einfluss der Umwelt – in der Verbindung zwischen Grundlage und Umwelteinflüssen, führt das zu einer neuen Qualität. Sonne, Boden, Dünger, Feuchtigkeit und Regen mögen die Umwelt bilden, wenn wir über den Keim reden; die Gesellschaft, eine Gruppe bzw. Gemeinschaft, Bücher und Lehrer, wenn es um Menschen geht.

  1. Veränderung äußerer Einflüsse.

Der Mensch braucht eine Umgebung, die ihn fördert und ständig seine Entwicklung beeinflusst. Seinerseits be­einflusst der Mensch in seiner Entwicklung ebenso die Umgebung und gibt ihr den Anstoß, sich zu entwickeln. Auf diese Weise entwickeln sich der Mensch und seine Umgebung parallel und gemeinsam.

Durch diese vier Faktoren wird der Zustand jedes erschaffenen Wesens bestimmt. Und selbst wenn der Mensch seine gesamte Zeit mit dem Forschen verbringt, wird er trotzdem nichts verändern oder etwas zu dem hinzufügen können, was ihm durch diese vier Faktoren gegeben worden ist. Wie immer wir auch handeln oder denken, was auch immer wir tun oder erwerben ­– alles besteht aus diesen vier Faktoren. Jegliche Ergänzung, die man nur finden könnte, kann nur quantitativ sein, von einer höheren oder niedrigeren Stufe des Verstandes bestimmt werden, während hier qualitativ nichts hinzuzufügen bleibt. Diese vier Faktoren bestimmen zwangsläufig unseren Charakter, unsere Denkmuster und die Form der Schlussfolgerungen.

  1. Sein eigenes Wesen kann der Mensch nicht ändern.
  2. Gesetze, aufgrund deren sein Wesen sich ändert, kann der Mensch auch nicht ändern.
  3. Gesetze, aufgrund deren sich seine inneren Eigenschaften abhängig von äußeren Einflüssen ändern, kann der Mensch nicht ändern.
  4. Die Umgebung, von der der Mensch völlig abhängig ist, kann der Mensch ändern!

Dadurch, dass der Mensch heute seine Umgebung beeinflussen kann, bestimmt er seinen zukünftigen Zustand. Das Einzige, was durch die Umgebung beeinflusst werden kann, sind die Qualität und Quantität, bzw. Geschwindigkeit und Qualität des Vorwärtskommens eines Menschen, des Weges, den er begeht. Er kann seinen Weg in Schmerz, Angst und Leiden und endlosen blutigen Auseinandersetzungen gehen, oder ruhig und gelassen voranschreiten, weil er selbst das Ziel anstrebt. Deshalb empfehlen Kabbalisten, Lehrzentren zu eröffnen, um damit Gruppen, das heißt Gemeinschaften zu bilden – die ideale Umgebung für alle, die das Ziel der Schöpfung erreichen wollen.

Freie Wahl

Ungeachtet der Tatsache, dass wir unsere Grundlage, als wer und wie wir zur Welt kommen, nicht bestimmen können, sind wir dennoch in der Lage, Einfluss auf die ersten drei Faktoren auszuüben, nämlich durch die bewusste Wahl unserer Umgebung, wie Freunde, Bücher und Lehrer. Nachdem wir jedoch einmal unsere Umgebung ausgewählt haben, wird unser zukünftiger Zustand bereits davon geprägt, was die Umgebung uns zu geben vermag.

Anfänglich hat man die Möglichkeit, sich solche Lehrer, Bücher und Freunde zu wählen, die gute Gedanken hervorrufen werden. Wenn der Mensch das unterlässt, und bereit sein wird, jede zufällige Umgebung zu betreten, jedes zufällige Buch zu lesen, dann wird er natürlich in eine schlechte Gesellschaft geraten, oder wird Zeit beim Lesen unnützer Bücher vergeuden (von denen es mehr gibt und die viel ange­nehmer zu lesen sind). Das Endergebnis wird eine armselige Bildung sein, die zu einem unkorrekten Verhalten im Leben führen wird.

Daraus ist ersichtlich, dass der Mensch nicht für seine schlechten Gedanken oder Taten bestraft oder belohnt wird, bei denen er keine Wahl hat, sondern er wird dafür bestraft, keine gute Umgebung gewählt zu haben – denn darin hat er ja zweifellos die Möglichkeit, frei zu wählen. Der Mensch soll beurteilt und bestraft werden, damit ihm klar wird, dass er nicht für seine Vergehen, sondern für seine Wahl einer falschen Umgebung verurteilt wurde.

Derjenige, der sich in seinem Leben bemüht, und jedes Mal eine bessere Umgebung wählt, verdient den Erfolg nicht für seine guten Gedanken, die ihm frei in den Sinn kommen, sondern für seine Bemühungen, jedes Mal aufs Neue eine bessere Umgebung zu wählen, die ihn zu diesen guten Gedanken führt. Solch ein Mensch erhält als Belohnung einen besseren, fortgeschritteneren Zustand.

Im Buch Sohar ist ein Beispiel über einen armen Weisen angeführt, dem ein Reicher vorschlug, zu ihm umzuziehen. Der Reiche hörte eine Absage: „Unter keinen Umständen werde ich da leben, wo es keine Weisen gibt!“ „Du bist aber der größte Weise deiner Generation!“, rief der Reiche, “von wem könntest du noch lernen!?“. Der Weise erwiderte: „Sogar wenn der größte Weise unter Ignoranten lebt, würde er ihnen bald gleich werden.“

Deshalb sollte man dem bekannten Ratschlag folgen: „Schaffe dir einen Lehrer und kaufe dir einen Freund“. Das heißt: schaffe dir deine eigene Umgebung, weil nur die Wahl der richtigen Umgebung den Menschen zum Erfolg führen kann. Nach der Wahl der Umgebung formt sich der Mensch in ihren Händen wie Lehm in den Händen eines Töpfers. Wir befinden uns in der Gefangenschaft unserer egoistischen Natur. Sich aus ihrer Macht zu befreien, bedeutet, die höhere Welt wahrnehmen zu können.

Da wir gänzlich in der Macht dieser Welt stehen, können wir uns ihr nur entziehen, wenn wir entgegen unserer natürlichen, egoistischen Umgebung eine künstliche Gruppe um uns herum erschaffen, eine Gruppe, die unsere Ansichten und Ziele teilt, und wünscht, gemeinsam aus der Macht dieser unseren Umgebung auszutreten, und sich in die Macht einer Umgebung zu begeben, die sich nach dem Gesetz der spirituellen Welt richtet.

Durch die Befreiung aus dem Einfluss der egoistischen Umgebung, durch den Austritt aus ihr, und durch die Enthüllung der Eigenschaft des Gebens in uns, verwirklichen wir uns autonom, und die Eigenschaft des Gebens selbst ist unsere freie Wahl.

Schutz vor den drei übrigen Faktoren

Der Mensch handelt automatisch unter dem Einfluss von inneren Faktoren, die in ihm veranlagt sind, und unter der Einwirkung von außen führt er einfach aus, was diese vorgeben. Wenn der Mensch wünscht, sich von der Herrschaft der Natur zu befreien, muss er sich dem Einfluss der von ihm ausgewählten Umgebung aussetzen. Mit anderen Worten muss er einen Lehrer, eine Gruppe und Bücher wählen, die ihm vorgeben, was er tun soll, weil der Mensch immer eine Ableitung der oben genannten vier Faktoren ist.

Macht des Verstandes über den Körper

Der Verstand des Menschen ist Folge von Lebenssituationen, Spiegelbild jener Ereignisse und Umstände, die auf den Menschen Einfluss ausüben. Die richtige Nutzung des Verstandes besteht darin, sich dem Nützlichen anzunähern und sich vom Schädlichen zu entfernen. Die menschliche Phantasie setzt den Verstand so ein, wie die Augen ein Mikroskop benutzen: Nachdem der Mensch mit Hilfe des Mikroskops gesundheitsschädliche Kleinorganismen entdeckt hatte, fing er an, sich vor diesen Schädlingen zu schützen. Daher ist es das Mikros­kop und nicht die Wahrnehmung, welches dem Menschen erlaubt, den schädlichen Einfluss (Mikrobe, Bakterium, Virus) dort zu verhindern, wo er nicht wahr­genommen werden kann.

Dort, wo der Körper nicht imstande ist, Nutzen oder Schaden zu erkennen, ist die Vernunft notwendig, die dann die Kontrolle über den menschlichen Körper übernimmt, ihn vom Schädlichen abhält und dem Nützlichen annähert. Soweit der Mensch begreift, dass der Verstand ein Ergebnis seiner Lebenserfahrung ist, erklärt er sich be­reit, die Vernunft und Weisheit eines anderen Menschen, dem er vertraut, anzunehmen, so wie der Mensch einen Arzt um Rat bittet und diesem Rat folgt, obwohl er von der Medizin nichts versteht. Er vertraut jedoch der Vernunft des Arztes. Auf diese Weise benutzt er die Vernunft anderer, welche nicht weniger hilft als seine eigene.

Zwei Wege der Vorsehung

Es gibt zwei Wege der Steuerung, die dem Menschen die Erreichung des Schöpfungsziels garantieren:

  1. der Weg der Leidens
  2. der Weg der Kabbala

Der Weg der Kabbala besteht darin, dass wir uns der Vernunft der Weisen anvertrauen, die das Ziel der Schöpfung schon erfasst und erreicht haben und uns auf ihre Vernunft verlassen, als ob es unsere eigene Lebenserfahrung wäre. Wie können wir aber sicher sein, dass die Vernunft, der wir uns jetzt anzuvertrauen bereit sind, von wahrer Natur ist? Andererseits, wenn wir nicht der Vernunft der Weisen, wie dem Ratschlag eines Arztes Folge leisten, dann verurteilen wir uns zu einem langen Weg des Leidens, wie ein Kranker, der den Ratschlag des Arztes ablehnt und selbst mit dem Studium der Medizin beginnt, obwohl er krank ist und an seiner Krankheit sterben könnte, noch bevor er es schafft, sich selbst die Weisheit anzueignen.

So sieht der Weg des Leidens im Vergleich zum Weg der Kabbala aus: Derjenige, der nicht an die Weisheit glaubt, die ihm die Kabbala anzunehmen empfiehlt, kann versuchen, diese Weisheit eigenständig zu erlangen – durch Leiden; während es jedoch eine Erfahrung gibt, die diesen Prozess um ein Vielfaches beschleunigen kann. Sie erlaubt es, das Böse wahrzunehmen und sich von ihm zu entfernen, hin zu einer guten Umgebung, die das Aufkommen richtiger Gedanken und Taten stimuliert.

Der Mehrheit folgend

Unterscheidet sich die eigene Ansicht von jener der Mehrheit, sind wir dazu verpflichtet, unsere Entschei­dungen in Übereinstimmung mit der Mehrheit zu treffen. Dieses Gesetz wirft die Menschheit aber zurück, weil die meinungsführende Mehrheit unentwickelt und nur eine kleinere Minderheit entwickelt ist. Die Natur hat für uns jedoch vorgesehen, dass wir in einer Gesellschaft leben, und deshalb müssen wir alle Gesetze der Gesellschaft befolgen, sonst zieht die Natur uns zur Verantwortung, unabhängig davon, ob wir den Sinn ihrer Gesetze verstehen oder nicht. Das Einhalten der Regeln des Gemeinschaftslebens ist eines der Naturgesetze, und wir sollten dieses Gesetz mit aller Vorsicht befolgen, ohne unser eigenes Verständnis zu Rate zu ziehen.

Der Sinn dieses Gesetzes liegt darin, dass uns bewusst wird, dass

  • Liebe zu sich selbst das Böse ist und
  • Liebe zum anderen das Gute ist,

weil dies das einzige Mittel ist, zur Liebe zum Schöpfer überzugehen.

Die Mehrheit hat jedoch kein Recht darauf, sich in die Position des Individuums in seiner persönlichen Beziehung mit dem Schöpfer einzumischen, sondern jeder ist frei zu tun, was er für richtig hält. Darin besteht die persönliche Freiheit. Das heißt, die Beziehung des Menschen mit dem Schöpfer wird vom Menschen selbst geregelt, während er sich bei allen übrigen Verhaltensregeln an das Prinzip „Folge der Mehrheit“ hält.

Im Leben der Gesellschaft wirkt das Gesetz der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit

Aus welchem Grund hat die Mehrheit sich das Recht herausgenommen, die Freiheit eines Einzelnen zu unter­drücken, ihm das Allerteuerste im Leben zu entziehen – seine Freiheit? Denn auf den ersten Blick gibt es hier nichts anderes als Zwang? Weil die Natur uns verpflichtet hat, in einer Gesellschaft zu leben, ist es selbstverständlich, dass jedes Mitglied verpflichtet ist, ihr zu dienen, sich um sie zu kümmern und zu ihrem Gedeihen beizutragen. Dies kann nur durch das Befolgen des Gesetzes der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit verwirklicht werden, das heißt, es kann nicht jeder handeln wie er will, er ist verpflichtet, dem in der Gesellschaft anerkannten Gesetz zu folgen.

Es ist klar, dass in all den Situationen, in denen keine materiellen Interessen des Lebens der Gesellschaft verletzt werden, die Mehrheit weder Recht noch Rechtfertigung auf jegliche Einschränkung der Freiheit einer Person hat. Jene, welche das doch tun und die Gewalt der Gerechtigkeit vorziehen, sind Verbrecher. Denn in diesem Fall verpflichtet die Natur die Person nicht, dem Verlangen der Mehrheit nachzukommen.

Im spirituellen Leben gilt das Gesetz: die Mehrheit muss dem Individuum folgen

In jeder Generation sind Individuen weiter entwickelt als die Mehrheit. Wenn die Gesellschaft die Notwendigkeit erkennt, sich ihrer Leiden zu entledigen und beginnt, sich nach Naturgesetzen und nicht nach eigenem Verlangen zu entwickeln, ist die Gesellschaft verpflichtet, sich unter die Macht des Individuums zu stellen und seine Anweisungen zu befolgen. Wenn es also um die spirituelle Entwicklung geht, wandelt sich das Recht der Mehrheit in die Pflicht um und es gilt das Gesetz, dem Individuum zu folgen, nämlich der entwickelten Persönlichkeit. Denn entwickelte und gebildete Persönlichkeiten machen nur einen geringen Teil der Gesellschaft aus, was bedeutet, dass spirituelle Erfolge und Errungenschaften der Gesellschaft von der Minderheit bestimmt werden.

Deshalb muss die Gesellschaft die Ideen solcher Individuen schützen, um sie vor dem spurlosen Verschwinden aus dieser Welt zu bewahren. Es wäre wünschenswert, wenn die Gesellschaft erkennen würde, dass ihre Erlösung nicht in der Hand der herrschenden Mehrheit, sondern in der von besonders entwickelten Individuen liegt.

Nachwort

Aus den Erfahrungen, die die Menschheit sammelt, versteht sie allmählich, dass ungeachtet all ihrer Ver­suche, den Verlauf der Geschichte und den der Entwicklung der Gesellschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken, das ganze Leben einem nicht von uns abhängigen Szenario folgt. Sind wir alle vom Schicksal verurteilt?

Die Erkenntnis der Schöpfung mit der kabbalistischen Methode eröffnet uns, dass die Krone der Schöpfung – der Mensch – aus drei Teilen besteht:

  • der erste Teil ist animalisch, er zeigt sich im körperlich orientierten Verlangen nach Essen, Sexualität, Familie, Haus – das, was in jeder Person unabhängig von ihrer Umgebung steckt;
  • der zweite Teil, der menschliche, der sich im Ver­langen nach Reichtum, Ehrerbietungen (Ruhm, Macht), Wissen – dem, was von der Gesellschaft abhängig ist – zeigt;
  • der dritte Teil ist spirituell, er erweckt das Verlangen nach der Höheren Welt. Dieses Verlangen entsteht in uns aus dem Gefühl des Todes heraus, aus der Unabgeschlossenheit des Lebens und aus der Tatsache, dass uns die Quelle seines Ursprungs unbekannt ist.

Der Mensch kommt auf diese Welt, um im Laufe seines Lebens die spirituelle Welt für sich zu eröffnen. Daraufhin existiert der Mensch dann in beiden Welten und nimmt nach dem Tod des Körpers die spirituelle Welt in dem Maße wahr, in dem er sie während des Lebens im Körper erreicht/erfasst hat. Wenn der Mensch im Laufe seines Verweilens in unserer Welt die spirituelle Welt nicht erreichen konnte, steigt seine Seele, gekleidet in einen neuen biologischen Körper, wieder in diese Welt herab. Die Seele kann die spirituelle Welt nur dann eröffnen, wenn sie in einen materiellen Körper eingekleidet ist.

Daraus folgt, dass

  • diese Welt und unser Aufenthalt in ihr nur dazu bestimmt ist, während unserer Lebenszeit die spirituelle Welt zu entdecken;
  • der erste (animalische) und der zweite (menschliche) Teil existieren nicht selbstständig in uns. Sie spielen nur insofern eine Rolle, insofern sie der Verwirklichung des dritten (spirituellen) Teils in uns dienen – unserer Mission in dieser Welt, die in der Entwicklung des Dranges nach dem Spirituellen besteht, in der Enthüllung der Höchsten Welt, solange wir in dieser Welt verweilen. Alle Handlungen des Menschen werden ausschließlich in Hinsicht auf sein spirituelles Wachstum bewertet, weil nur sein spiritueller Teil Änderungen durchmachen muss;
  • der erste und zweite Teil verändern sich weder selbstständig noch abhängig von unserem Verlangen, sondern nur in dem Maß der Notwendigkeit der Verwirklichung des dritten Teiles, des spirituellen Wachstums;
  • wir durch unsere Handlungen, die mit dem ersten und zweiten Teil verbunden sind, keinen freien Willen haben, sie sind von der Natur fest vorgegeben und bilden ein starres Gerüst in uns. Durch freie Handlungen in unserer spirituellen Entwicklung bestimmen wir unsere übrigen Zustände, sowohl im ersten und zweiten Teil (animalischen und menschlichen), als auch im dritten (spirituellen) Teil;
  • durch den Verzicht auf unnütze Handlungen, die mit körperlichen und menschlichen Verlangen ver­bunden sind. Indem wir all unsere Anstrengungen auf das spirituelle Wachstum konzentrieren, auf die Enthüllung der höchsten Natur, der höchsten Welt, bekommt der Mensch die Möglichkeit, alles in dieser Welt zu beherrschen (im ersten und zweiten Teil). Das ist klar, denn aus der höchsten Welt stiegen zu uns alle Signale der Steuerung herab, alle Ereignisse, und sie stellen sich uns in ihrer unvollendeten Form dar. Daher ist die Absage an die Verwirklichung der Wünsche eines Menschen durch diese Welt, die Absage an nutzlose Versuche, Erfüllung in dieser Welt zu finden, auch eine Absage an nutzlose Versuche, sein Schicksal zu verändern, und die Enthüllung der Höchsten Welt bedeutet einen Einschluss in die allgemeine Steuerung des Universums.

Das vorgelegte Material zeigt, inwieweit alle Handlungen und Zustände des Menschen sowie seine Zustände in dieser Welt vorbestimmt sind, nämlich alle außer dem einen Zustand, der alles andere bestimmt – das Streben nach der spirituellen Welt, nach ihrer Enthüllung, nach der Beherrschung ihrer Gesetze.

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