Baal HaSulam, Brief 25, Gleichnis über den Sohn eines Reichen im Keller
Rav Yehuda Ashlag, aus dem Jahr 1927
(…) Auf den ersten Blick müsste man „Rückkehr“ (Tshuva) als „Vollkommenheit“ (Shlemut) bezeichnen. Doch dieses Wort verweist darauf, dass alles von Anfang an bereitet ist und jede Seele bereits in ihrem ganzen Licht, in Güte und Ewigkeit weilt. Nur wegen des „Brotes der Scham“ ist die Seele aus diesem Zustand mittels Einschränkungen ausgetreten, bis sie sich schließlich in einen trüben Körper hüllte. Nur dank ihm kehrt sie zu ihrer Wurzel zurück, wo sie sich vor der Einschränkung befand, mit einer Belohnung für diesen ganzen schrecklichen Weg, den sie zurückgelegt hat. Im Grunde stellt diese Belohnung die wahre Verschmelzung dar. Mit anderen Worten befreit sich die Seele vom „Brot der Scham“, da ihr Gefäß des Empfangens sich in ein Gefäß des Gebens verwandelt und sie sich in ihren Eigenschaften ihrem Erschaffer angleicht. Doch zu diesem Thema habe ich bereits viel gesagt.
Daraus wirst du verstehen, dass, wenn ein Abstieg zum Zweck des Aufstiegs geschieht, er als Aufstieg und nicht als Abstieg gilt. Und tatsächlich ist dieser Abstieg in seinem Wesen ein Aufstieg, weil sich die Buchstaben des Gebetes selbst mit Überfluss (an Wonne) erfüllen. Doch ein kurzes Gebet wird zur Kürzung des Überflusses infolge des Mangels an Buchstaben führen. Die Weisen sagten: „Wenn die Söhne Israels nicht sündigen würden, würden ihnen nur die fünf Bücher Moses und das Buch Josua gegeben werden.“ Und das reicht für den Verstehenden aus.
Man kann dafür das folgende Beispiel anführen: Ein großer Reicher hatte einen einzigen Sohn im jungen Alter. Es kam ein Tag, an dem der Vater für viele Jahre fern ab von zu Hause auf Reisen gehen musste. Da bekam der Reiche Angst, dass der Sohn seine Habe für schlechte Zwecke verjubeln würde.
Nach langem Überlegen tauschte er seinen Besitz in Edelsteine, Perlen und Gold um. Dann baute er einen großen Keller tief unter der Erde und versteckte darin alle Golderzeugnisse, alle Edelsteine und Perlen und platzierte außerdem seinen Sohn hinein.
Er rief seine treuen Diener zusammen und befahl ihnen, darauf zu achten, dass sein Sohn den Keller nicht verlässt, bevor er nicht 20 Jahre alt wird. Außerdem befahl der Vater, seinem Sohn täglich Essen und Trinken zu bringen, ihm aber keinesfalls Feuer und Kerzen zu geben und zu prüfen, dass es in den Wänden keine Risse gibt, durch welche Sonnenstrahlen in den Keller gelangen könnten. Und für die Gesundheit des Sohnes befahl der Vater den Dienern, ihn täglich aus dem Keller für eine Stunde nach draußen zu führen und mit ihm durch die Straßen der Stadt zu spazieren – doch unter einer guten Bewachung, damit er nicht fliehen würde. Und wenn der Sohn 20 Jahre alt sein würde, dann würde man ihm Licht geben, das Fenster öffnen und erlauben herauszugehen.
Natürlich kannte das Leid des Sohnes keine Grenzen, um so mehr da er sah, wenn er in der Stadt spazieren ging, dass alle jungen Leute aßen, tranken und sich in den Straßen vergnügten, ohne Bewachung und ohne eine bemessene Zeit, und er im Gefängnis saß und Augenblicke des Lichts ihm nach Stunden gezählt wurden. Und wenn er zu fliehen versuchte, dann schlug man ihn ohne einen Funken Mitleid. Und was ihn noch mehr betrübte und bedrückte, war die Tatsache, dass er gehört hatte, dass sein eigener Vater selbst dieses ganze Unglück auf ihn heraufbeschworen hatte, wobei die Diener nur die Anweisungen des Vaters erfüllten. Selbstverständlich dachte der Sohn, dass sein Vater das grausamste Monster von allen sei, die es je gab – denn das war einfach unerhört.
An dem Tag, als der Sohn 20 Jahre alt wurde, brachten ihm die Diener gemäß dem Befehl des Vaters eine Kerze hinab. Der junge Mann nahm die Kerze und begann sich umzuschauen. Und was sah er nun? Säcke voller Gold und königlicher Reichtümer. Erst dann verstand er, dass sein Vater wahrlich barmherzig war und sich um nichts anderes als um sein Wohl gekümmert hatte. Der Sohn verstand sofort, dass die Diener ihm natürlich erlauben würden, den Keller frei zu verlassen. Das tat er auch: Er verließ den Keller, und es gab keine Wache mehr, keine grausamen Diener, und er war reicher als alle Reichen der Erde.
Doch in Wirklichkeit geschah nichts Neues. Es stellte sich einfach heraus, dass er von Anfang an alle Tage seines Lebens ein großer Reicher gewesen war. In seinen eigenen Empfindungen war er zwar sein Leben lang arm und auf den Boden gestürzt, doch nun wurde er in einem Augenblick sehr reich und „stieg aus einem tiefen Abgrund zur Bergspitze auf“. Wer wird dieses Gleichnis verstehen können? Ein Mensch, der versteht, dass „böswillige Vergehen“ eben dieser tiefe Keller mit sicherer Wache sind, aus dem man nicht entkommen kann. Hier werde ich mich fragen, ob du das begreifst.
Die Sache ist einfach: Der Keller und die sichere Wache – all das sind „Anschaffungen“, die Güte des Vaters gegenüber seinem Sohn, ohne welche dieser niemals so reich werden würde wie der Vater. Doch „böswillige Vergehen“ – das sind „tatsächlich beabsichtigte Sünden“ und nicht „zufällige Vergehen“ oder „erzwungene Taten“.
Bevor der Mensch zu seinem Reichtum zurückkehrte, beherrschte die Empfindung seine Wahrnehmung, in voller Form und voller Bedeutung. Doch nachdem er zu seinem Reichtum zurückgekehrt war, sah er, dass all das Güte des Vaters war und keineswegs Grausamkeit.
Man muss verstehen, dass die Liebe, welche den Vater und seinen einzigen Sohn verbindet, von der Erkenntnis der Güte des Vaters zum Sohn im Bezug auf den Keller, die Finsternis und die sichere Bewachung abhängt, denn der Sohn sieht eine große Sorge und eine tiefe Weisheit in der Barmherzigkeit des Vaters.
Im heiligen Sohar ist ebenfalls davon die Rede. Darin steht, dass demjenigen, dem die Rückkehr zuteil wurde, sich die heilige Shechina als eine großzügige Mutter offenbart, die ihren Sohn eine lange Zeit nicht gesehen hat. Eine Vielzahl an wunderbaren Taten haben sie vollbracht, um einander zu sehen, und haben sich deswegen großen Gefahren ausgesetzt. Schließlich bekommen sie die langersehnte Freiheit, die sie mit solch einer Ungeduld erwarteten, und es wird ihnen zuteil, einander zu sehen. Dann läuft die Mutter zum Sohn, küsst und tröstet ihn und führt mit ihm Tag und Nacht ein inniges Gespräch. Sie erzählt von der Sehnsucht, von den Gefahren, die ihr auf ihrem Weg lauerten, und davon, dass sie von Anfang an unverändert bei ihm war. Die Shechina wich nicht von seiner Seite und litt überall mit ihm, doch er konnte das nicht sehen.
Im Buch Sohar steht, dass die Mutter zum Sohn sagt: „Hier überfielen uns Räuber, doch wir konnten uns vor ihnen retten. Und hier verbargen wir uns in einer tiefen Schlucht“ usw. Welch ein Narr wird die große Liebe, die Zärtlichkeit und die Wonne nicht verstehen, die aus diesen Erzählungen sprudeln, die ihre Herzen trösten.
Die Wahrheit besteht darin, dass vor dem Treffen von Angesicht zu Angesicht die Leiden, die verspürt wurden, schwerer als der Tod waren. Der Buchstabe „a“ (ע) im Wort „Bedrängnis“ oder „Leiden“ (Noga) stand am Ende, doch nun befindet er sich am Anfang der Buchstabenverbindung, was natürlich „Genuss“ bedeutet (Oneg). Diese zwei Punkte leuchten erst, nachdem sie sich in einer Welt verwirklicht haben. Stelle dir vor, dass Vater und Sohn, die jahrelang ungeduldig ein Treffen erwarteten, einander schließlich sehen. Doch der Sohn ist taub und stumm, und daher können sie aneinander keine Freude haben. Die Liebe verbirgt sich also hauptsächlich in den Genüssen, die der Stufe eines Königs entsprechen.
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