Von Dr. Michael Laitman
Der hauptsächliche Schwerpunkt der Wissenschaft der Kabbala ist die gegenseitige Durchdringung aller Teile der Schöpfung: die Erkundung dessen, wie alle Teile der Wirklichkeit aller fünf Welten, von einem Gesetz der Natur geleitet, sich ineinander einschließen, sich vereinigen und verbinden, bis sie ein Ganzes ausmachen, in dem alles ineinander eingeschlossen und miteinander verbunden ist. Ferner entdeckt der Forscher der Höchsten Welt, dass alle Welten und die Wissenschaft der Kabbala selbst in nur zehn Wirklichkeiten vereint sind, die man als die zehn Sefirot bezeichnet (übersetzt aus dem Hebräischen „die zehn Lichter“), die eine Ordnung aus fünf Teilen bilden, die sich nach einem Punkt ordnen, der die Welt der Unendlichkeit bezeichnet.
Derjenige, der beginnt, die Wissenschaft der Kabbala zu studieren, muss sein Studium bei dem Punkt beginnen, und von ihm zu den zehn Sefirot übergehen, die sich in der ersten Welt unter der Welt der Unendlichkeit befinden, die als die Welt Adam Kadmon bezeichnet wird (übersetzt aus dem Hebräischen die Welt des „prototypischen Menschen“). Ferner findet der Studierende heraus, in welcher Weise die unzähligen Details, die in der Welt Adam Kadmon existieren, sich fortsetzen und verbreiten, der kausalen Ordnung folgend, nach den Gesetzen, die wir in der Astronomie, der Physik und weiteren irdischen Wissenschaften finden. Das heißt, dass die festgelegten Gesetze absolut und gegenseitig verpflichtend sind, und das Gesetz der gestuften Entwicklung des Einen aus dem Anderen unterliegt keiner Übertretung. Von dem Punkt zu der ganzen Mannigfaltigkeit, die sich in der Welt Adam Kadmon befindet, verbreiten sich von dort die vier Welten wie Abdrücke von einem Stempel, bis wir die ganze Vielfältigkeit erreichen, die es in dieser Welt gibt, und anschließend in unsere Forschung eingehen, indem wir alle Teile und Details der Schöpfung ineinander einschließen, bis wir schließlich die Welt Adam Kadmon erreichen, dann die zehn Sefirot, dann die vier Hauptstufen und schließlich den Ausgangspunkt.
Ungeachtet der Tatsache, dass wir den Stoff nicht kennen, kann man ihn auf dem Wege der Logik erlernen, wie in jeder anderen Wissenschaft. Wenn wir uns zum Beispiel mit der Anatomie, mit einzelnen Organen und deren Zusammenwirken beschäftigen, dann sehen wir, dass die Organe keine Vorstellung von dem Gesamtsubjekt haben, dem lebendigen Menschen. Wir werden aber im Laufe der Zeit und durch das Erlernen dieser Wissenschaft fähig werden, aus dem Einzelnen eine Gesamtregel abzuleiten, die das Verhalten des Körpers als Ganzes erklären wird. So ist derjenige, der das Studium der höchsten Welt antritt, von der er kein Wissen besitzt (welches seinerseits nur aus der Einheit aller Details erlangt werden kann), verpflichtet, alle Details zu erkennen, das System deren Zusammenwirkens und die Faktoren von Ursache und Wirkung, bis er die ganze Weisheit erlangt. Und wenn er alles bis in die Feinheiten weiß, wird er das komplette Wissen erreichen.
Erst jetzt beginnt man in der ganzen Welt, die Wissenschaft der Kabbala zu studieren. Ihre Schwierigkeit und Unbegreiflichkeit waren nicht der Grund dafür, dass man sie nicht studiert hat: der Astronom hat auch keine Vorstellung von Sternen und Planeten, aber er erlernt Prozesse, die sie durchlaufen in Form einer Wissenschaft. Die Kenntnisse der Wissenschaft der Kabbala sind vor der Menschheit nicht mehr verborgen als die der Astronomie. Ihre Details und Prozesse sind in Lehrbüchern über die Kabbala sogar für Anfänger gut genug dargelegt und erklärt. Der Grund der Verheimlichung der Wissenschaft der Kabbala besteht darin, dass die Kabbalisten selbst sie im Laufe von Jahrtausenden verbargen, bis hin zu unserer Zeit, als ein zwingendes Bedürfnis nach ihr entstand, weil die Menschheit in ihrem Egoismus fortgeschritten ist und die Sündhaftigkeit und Ausweglosigkeit der eigenen Entwicklung erkannt hat.
Das Ziel der Schöpfung
Genauso wie es in dem, was von der Höchsten Lenkenden Kraft ins Leben gerufen wurde, nichts zweckloses gibt, so hat sie selbst auch zweifellos für alles, was sich vor uns erstreckt, ein Schöpfungsziel. Aus der ganzen Mannigfaltigkeit der Schöpfung, die von der Höchsten Lenkung erschaffen wurde, kommt eine besondere Wichtigkeit der Vernunft zu, die ausschließlich dem Menschen gegeben wurde, und dank welcher er die Leiden seines Nächsten nachempfindet. Wenn also die Höchste Lenkende Kraft ein Schöpfungsziel hat, so ist deren Objekt der Mensch, und alles ist nur zu dem Zweck erschaffen, dass er seiner Bestimmung folgt – der Erreichung des Zustands der Wahrnehmung der ihn lenkenden Höchsten Kraft, im selben Grad, wie er seine Umgebung wahrnimmt. Infolge der Annäherung, durch die Angleichung der Eigenschaften des Gebens und der Liebe, entsteht im Menschen das Gefühl eines gewaltigen Genusses, bis hin zu einer wundersamen Empfindung der vollkommenen gegenseitigen Verbindung mit der höchsten lenkenden Kraft.
Enthüllung des Vorhabens – im Erreichen des Ziels
Es ist bekannt, dass das Ende der Handlung und deren Ergebnis immer schon im ursprünglichen Plan implizit vorhanden sind, genau so, wie jemand ein Haus bauen will und es sich im Geist ausmalt, und dieses Bild dann sein Ziel ist. Davon ausgehend stellt er einen Plan des Baus auf, damit das Ziel erfolgreich erreicht wird.
So ist es auch in der Weltschöpfung: nachdem das Ziel klar wird, wird ebenfalls klar, dass die Reihenfolge der Erschaffung in allen Erscheinungsformen vorherbestimmt ist, und zwar nur diesem Ziel entsprechend, dem zufolge die Menschheit sich in der Eigenschaft des Gebens entwickeln und erheben wird, bis sie schließlich fähig wird, die Höchste Lenkende Kraft wie den nächsten Menschen zu spüren.
Die Eigenschaft des Gebens wird durch den Menschen stufenweise erlangt, wie auf den Stufen einer Leiter, und der Mensch erklimmt sie, indem er sie eine nach der anderen überwindet, bis er schließlich sein Ziel erreicht. Die Anzahl und Eigenschaft dieser Stufen wird durch zwei Realitäten bestimmt:
- Die Realität der Materie – die Reihenfolge der Emanation des höchsten Lichtes von oben nach unten aus der Urquelle, die das Maß und die Qualität des aus dem Wesen des Schöpfers ausgehenden Lichtes bestimmt. Dieses Licht durchläuft Verhüllungen, eine nach der anderen, bis aus ihm schließlich die materielle Wirklichkeit und die physischen Geschöpfe entstehen.
- Die Wirklichkeit der Höchsten Vernunft – nach der Offenbarung des Abstiegs von oben nach unten beginnt die Reihenfolge von unten nach oben, die Stufen einer Leiter bildet, der entsprechend sich die Menschheit entwickelt, während sie die Stufen erklimmt und aufsteigt, bis sie schließlich das Ziel der Erschaffung erreicht.
Beide Realitäten werden in allen ihren einzelnen Erscheinungsformen und in ihrer Einzigartigkeit in der Wissenschaft der Kabbala studiert
Die Höchste Lenkende Kraft
Die Höchste Lenkende Kraft, die normalerweise als die „Natur“ oder „der Schöpfer“ bezeichnet wird, wird von den Wissenschaftlern – Kabbalisten als das absolut Gute charakterisiert. So erkennen sie diese an sich selbst. Das heißt, dass es unmöglich ist, dass sie jemandem etwas Böses antut. Und diese Tatsache wird von den Kabbalisten, die diese Kraft erkennen, als das Hauptgesetz der Schöpfung begriffen.
Der gesunde Menschenverstand zeigt uns, dass Egoismus der Grund für alle schlechten Taten ist, der „Wille, Genuss für sich zu Empfangen“ (kurz: Wille zu Empfangen). Das leidenschaftliche Streben nach dem eigenen Wohlergehen, das vom „Willen zu Empfangen“ erzeugt wird, ist der Grund dafür, dem Nächsten Schlechtes anzutun, weil der Wille zu Empfangen nach Selbsterfüllung strebt. Und wenn das Geschöpf keine Befriedigung im eigenen Wohlergehen finden würde, gäbe es niemanden in der Welt, der seinem Nächsten Schlechtes antun würde. Und wenn wir doch jemanden antreffen, der seiner Umgebung nicht aus dem Willen zu Empfangen heraus Schlechtes antut, dann tut er das Kraft der Gewohnheit, die ursprünglich vom Willen zu Empfangen erzeugt wurde. Und diese Gewohnheit ist nun der einzige Grund seiner Handlung.
Weil die Höchste Lenkende Kraft von uns als perfekt, nichts zu ihrer Perfektion bedürfend wahrgenommen wird, ist es offensichtlich, dass sie keineswegs über irgendeinen Willen zu Empfangen verfügt, und in ihr daher kein Potential vorhanden ist, jemandem Schlechtes anzutun. Und mehr als das, sie verfügt über den „Willen zu Geben“ – den Wunsch, den Geschöpfen Gutes zu tun.
Alles, was die Geschöpfe empfinden, ob gute oder schlechte Empfindungen, geht von der Höchsten Lenkenden Kraft aus, die über eine einzige Eigenschaft verfügt – den Willen zu Geben, den Willen, allen Geschöpfen Gutes zu tun. Und das ist das einzige Gesetz, das Verhältnis zu den Geschöpfen, aus dem folgt, dass alle Geschöpfe offensichtlich nur Gutes empfangen und von ihr nur für das Gute erschaffen sind. Deswegen bezeichnen die Kabbalisten diese Kraft als das „absolut Gute“.
Die Höchste Lenkung ist zielgerichtet
Sehen wir uns die tatsächliche Wirklichkeit an, die von der Höchsten Kraft geleitet und kontrolliert wird, und wie sie ausschließlich Gutes tut. Wenn wir uns jedes kleinste Geschöpf ansehen, das einer der vier Arten angehört: leblos, pflanzlich, tierisch, sprechend, so werden wir sehen, dass sich jedes Individuum sowie jede Art als Ganzes stufenweise in eine kausale Reihenfolge einordnet, ähnlich wie die Frucht eines Baumes, deren Lenkung ein gutes Endziel verfolgt – die Reifung. Botaniker können erklären, wie viele Zustände eine Frucht von der Entstehung bis zu ihrem Ziel, der vollkommenen Reifung, durchläuft. Aber alle Zustände, die dem letzten vorangehen, deuten den schönen und süßen Endzustand nicht nur an, sondern offenbaren sich als dessen vollkommenes Gegenteil: je süßer die Frucht am Ende ist, desto bitterer und hässlicher ist sie in den vorangehenden Stadien ihrer Entwicklung.
Noch bestürzendere Unterschiede entdecken wir zwischen dem sich entwickelnden und dem entwickelten Individuum auf den Stufen von „tierisch“ und „sprechend“ (Mensch): das Tier, dessen Verstand auch bei Abschluss der Entwicklung klein bleibt, erfährt keine bedeutenden Veränderungen im Entwicklungsprozess, während der Mensch, dessen Verstand sich am Ende der Entwicklung mehrfach vergrößert, riesige Veränderungen durchläuft. So bezeichnet man zum Beispiel ein eintägiges Kalb bereits als einen Bullen, weil er über die Kraft verfügt, auf eigenen Beinen zu stehen und zu laufen, und über den Verstand, um Gefahren aus dem Weg zu gehen, die ihm begegnen. Ein Mensch dagegen, der einen Tag alt ist, ähnelt einem gefühllosen Wesen. Und wenn jemand, der die Umstände dieser Welt nicht kennt, sich die zwei Neugeborenen ansehen würde, und die Situation beschreiben wollte, würde sicherlich vom Säugling sagen, dass dieser keinen Erfolg auf dem Weg zu seinem Ziel haben wird, während er vom Kalb sagen würde, dass ein zukünftiger großer Held geboren ist. Wenn wir also nach der Entwicklungsstufe des Verstandes von einem Kalb und einem Neugeborenen urteilen, dann ist letzteres – ein nichtsverstehendes und nichtsfühlendes Wesen.
Auf diese Weise springt es förmlich ins Auge, dass die Höchste Lenkung der Wirklichkeit, die sie erschaffen hat, nichts anderes ist, als eine Form der zielgerichteten Lenkung, die Entwicklungsstufen nicht in Betracht zieht. Mehr als das, es sieht so aus, als würde sie mit deren Hilfe versuchen, uns bewusst zu täuschen, uns vom Verständnis des Ziels der Existenz dieser Zwischenstufen abzulenken, indem sie uns immer Zustände zeigt, die im Gegensatz zur Endvariante stehen.
Wenn wir das in Betracht ziehen, dann sagen wir: „es gibt keinen klügeren Menschen als den Erfahrenen“. Denn nur jemand, der Erfahrungen gesammelt hat, das heißt, der die Möglichkeit hat, die Schöpfung auf allen Entwicklungsstufen zu betrachten, bis hin zur letzten, perfekten Stufe, braucht vor allen verfälschten Bildern der Schöpfung auf unterschiedlichen Entwicklungsetappen keine Angst haben, und kann ausschließlich auf die Schönheit und Perfektion der abgeschlossenen Entwicklung vertrauen. Die Wissenschaft der Kabbala erklärt den Sinn einer solchen für jedes Geschöpf notwendigen Entwicklung stufenförmig.
So verweist die detaillierte Erkundung der Wege der Höchsten Lenkung in unserer Welt darauf, dass diese Lenkung nur zielgerichtet sein kann, so, dass deren gute Haltung überhaupt nicht gespürt wird, bevor das Geschöpf nicht den Endpunkt erreicht, das heißt, eine vollendete Form und eine abgeschlossene Entwicklung. Und bis dahin gilt das Gegenteil, nämlich, dass das Geschöpf dem Beobachter stets in einer beabsichtigt verfälschten Form erscheint.
Zwei Wege der Entwicklung: der Weg des Leidens und der Weg der Kabbala
Aus dem oben angeführten Beispiel wird ersichtlich, dass die Höchste Lenkende Kraft über die Eigenschaft des absolut Guten verfügt und uns zielgerichtet lenkt, ausgehend von der eigenen Perfektion des absolut Guten, ohne jeglichen Zusatz von Schlechtem und Bösem. Das bedeutet, dass die Zielgerichtetheit ihrer Lenkung uns verpflichtet, die Reihenfolge unterschiedlicher Zustände zu akzeptieren, die kausal verbunden sind, bis wir schließlich einen Zustand erreichen, in dem wir das begehrte Gute erhalten können, und somit das Endziel unserer Erschaffung erreichen, das einer herrlichen Frucht am Ende ihrer Reifung ähnelt. Dieses Ergebnis ist uns allen garantiert.
Der Plan der Höchsten Lenkenden Kraft besteht darin, uns zur Übereinstimmung mit ihrer Eigenschaft, dem absolut Guten zu bringen, und von diesem Ziel sind alle ihre Handlungen diktiert, die sie an uns vollzieht. Um uns zum Ziel zu bringen, sind zwei Entwicklungswege vorgesehen
- Der Weg des Leidens. Dieser Weg stellt die Reihenfolge der selbstständigen Entwicklung des Geschöpfes dar, das verpflichtet ist, ausgehend von der eigenen Natur, ihr zu folgen, indem es von einem Zustand in den anderen nach der Kausalität der Zusammenhänge übergeht. So entwickeln wir uns sehr langsam, bis uns die Notwendigkeit bewusst wird, uns für das Gute zu entscheiden, das Schlechte zu verneinen und eine zielgerichtete Verbindung herzustellen, die von der lenkenden Kraft erwünscht ist. Dieser Weg ist allerdings lang, zeitaufwendig und voll von Leiden und Schmerz.
- Der Weg der Kabbala. Dieser Weg ist leicht und angenehm, er ist fähig, uns in kurzer Zeit und ohne Leiden unserer Bestimmung würdig zu machen.
In jedem Fall ist unser konkretes Endziel von Beginn an verpflichtend vorgegeben, und es gibt keinen Weg, dem zu entkommen, weil die Höchste Kraft uns unerschütterlich auf zwei Wegen leitet – auf dem Weg des Leidens und auf dem Weg der Kabbala. In der umgebenden Realität sehen wir, dass die Lenkung gleichzeitig auf den zwei Wegen stattfindet.
Ziel der Kabbala ist es, in uns ein Gefühl dafür zu entwickeln, das Schlechte zu erkennen.
Das Ziel aller Handlungen eines Menschen in seinem Streben nach der Erkenntnis der Höchsten Welt ist letzten Endes das Erkennen des Bösen, das sich in ihm befindet, weil er herausfindet, dass es eben sein Egoismus ist, der ihn auf seinem Wege in die höchste Welt hindert. Der ganze Unterschied zwischen den Geschöpfen besteht im Maß der Erkenntnis des Bösen. Ein weiter entwickeltes Geschöpf ist sich einer höheren Stufe des Bösen in sich bewusst, und daher erkennt es und stößt Schlechtes in höherem Maße von sich ab, und ein unentwickeltes Geschöpf empfindet in sich eine niedrigere Stufe des Bösen, und daher stößt es nur geringfügig Schlechtes von sich ab, und behält es in sich, weil es dieses nicht als schlecht für sich empfindet.
Das Wesen alles Bösen ist die Liebe zu sich, die als „Egoismus“ bezeichnet wird. Diese Eigenschaft ist gegensätzlich zur Höchsten Kraft, deren einzige Eigenschaft der Wille zu Geben ist. Der Kern des Genusses besteht im Ausmaß der Ähnlichkeit des Menschen mit der höchsten Kraft. Der Kern des Leidens und der Ungeduld besteht in der Gegensätzlichkeit zur Eigenschaft der höchsten Kraft. Daher ist es der Egoismus selbst, der uns durch das Bewusstsein der Gegensätzlichkeit zur Eigenschaft der höchsten Kraft Schmerzen zufügt.
Die Empfindung der Widerlichkeit des Egoismus ist in jeder Seele ungleich: ein unentwickelter Mensch zählt den Egoismus nicht zu einer schlechten Eigenschaft, und nutzt ihn daher öffentlich, ohne jegliches Schamgefühl. Jemand, der entwickelter ist, empfindet bereits eine gewisse Stufe des eigenen Egoismus als schlecht, und schämt sich daher, von ihm öffentlich Gebrauch zu machen, und nutzt ihn nur verdeckt.
Jemand, der auf einer noch höheren Entwicklungsstufe steht, empfindet den Egoismus als widerlich, so weit, dass er ihn nicht in sich dulden kann, und vertilgt ihn daher komplett entsprechend der eigenen Erkenntnisstufe, weil er nicht mehr auf Kosten anderer Vergnügen haben will. Und dann beginnen im Menschen Funken der Nächstenliebe zu erwachen, die man als „Altruismus“ bezeichnet, der das Wesen des Guten ist. Und auch diese Eigenschaft entwickelt sich in ihm stufenweise: zunächst entsteht in ihm das Gefühl der Liebe für die Nächsten und der Wunsch, sich um sie zu kümmern. Und wenn sich die Eigenschaft des Altruismus in ihm mehr und mehr entwickelt, wächst in ihm die Stufe des Gebens gegenüber allen, die ihn umgeben – Liebe zu Nachbarn, zu seinem Volk, zur ganzen Menschheit.
Bewusste und unbewusste Entwicklung
Zwei Kräfte treiben uns voran und veranlassen uns, uns zu erheben, die Stufen der Leiter erklimmend, bis wir ihren Höhepunkt erreichen – das Endziel der Gleichheit unserer Eigenschaften mit der Eigenschaft der Lenkenden Kraft.
- Eine Kraft drängt uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, das heißt ohne unsere Wahl. Diese Kraft stößt uns von hinten, und die Kabbalisten gaben ihr den Namen „der Weg des Leidens“. Hier nehmen Systeme ihren Anfang der Erziehung und der Ethik, die auf der erfahrungsgemäßen Erkenntnis beruhen, das heißt, auf der Prüfung mithilfe des praktischen Verstandes. Das ganze Wesen dieses Systems ist nichts anderes als die Einschätzung des Schadens, den die sprießenden Keime des Egoismus angerichtet haben. Diese Erfahrungsdaten wurden von uns „zufällig“ gesammelt, das heißt, ohne dass es uns bewusst war. Aber sie dienen hinreichend überzeugend ihrem Ziel, weil die Stufe des Bösen, das sich in unseren Empfindungen offenbart und vergrößert, in dem Maße, wie wir uns seines Schadens bewusst werden, uns zwingt, es zu meiden. So erreichen wir eine höhere Stufe auf der Leiter.
- Die zweite Kraft treibt auf dem Wege unserer Erkenntnis, das heißt, dass wir diese Kraft selbst wählen. Diese Kraft zieht uns von vorn, und die Kabbalisten bezeichnen sie als den „Weg der Kabbala“. Indem wir ihr folgen und die Ratschläge der Kabbalisten befolgen, mit der Absicht, sich in unseren Eigenschaften der Höchsten Kraft anzunähern, entwickelt sich in uns mit riesiger Geschwindigkeit die Erkenntnis des Bösen und wir gewinnen doppelt:
Wir müssen nicht warten, bis die Lebenserfahrung uns schmerzhaft von hinten stößt, durch die Erkenntnis des Bösen in uns, während doch das Streben nach der Ähnlichkeit mit der Höchsten Kraft in uns dieselbe Erkenntnis des Bösen ohne vorherige Leiden entwickelt. Von Beginn unseres Strebens nach der Angleichung an die Höchste Kraft empfinden wir die Reinheit und die Wonne des Anschließens an sie, und es stellt sich in uns das Bewusstsein der Unveränderlichkeit der uns entgegengebrachten Liebe ein. Diese gestufte Empfindung der Offenbarung des Bösen spielt sich in uns auf dem Hintergrund der Wonne und der Ruhe ab, die sich in uns als Ergebnis der Angleichung an die Höchste Kraft einstellt.
Wir gewinnen Zeit, weil wir bewusst handeln, und es in unseren Kräften liegt, mehr zu tun, und so die Zeit unserer Korrektur zu beschleunigen, bis hin zu einer kompletten Übereinstimmung mit der Höchsten Kraft.
Die richtige Darlegung der Wissenschaft der Kabbala
Bis zur heutigen Zeit vermochte kein einziger Wissenschaftler – Kabbalist den Weg zu eröffnen, auf dem man sich mit der Wissenschaft der Kabbala öffentlich beschäftigen könnte, als ein ganzes Volk, und den Charakter eines jeden Wortes zu verdeutlichen. Nur der letzte Kabbalist des 20. Jahrhunderts – Baal HaSulam (1885- 1954) konnte in seinen Werken einen Weg zum Ziel der Schöpfung offenbaren und erklären, der für alle zugänglich wäre. Dieser Weg heißt „der Weg der Verhüllung“. Die Eröffnung dieses Weges ist zweifellos kein Verdienst von Baal HaSulam, sondern ist durch die Entwicklung unserer Generation bedingt, von ihrer Bereitschaft für die komplette Korrektur.
Obwohl man sich für die Deutung der Wissenschaft der Kabbala auch äußerer Wissenschaften bedienen könnte, geschieht ihre beste Erklärung auf dem Weg der Darlegung der höchsten Welt entsprechend der Wurzel und dem Zweig, der Ursache und Wirkung. Baal HaSulam ist also der Erste, der die Wissenschaft der Kabbala entsprechend der Wurzel und dem Zweig, der Ursache und der Wirkung erklärt hat, und das nach seiner Methodik erlernte eröffnet das Verständnis für alle kabbalistischen Quellen.
Die Erkenntnis der Wissenschaft der Kabbala geschieht durch:
- Das Verständnis des Textes – wie sich unsere Welt direkt vor dem Betrachter befindet, er aber dennoch viel Fleiß investieren muss, um die Welt zu verstehen, obwohl er doch alles mit seinen Augen sieht.
- Durch Fühlen des Textes – außer der Information ist im Text eine besondere Eigenschaft eingeschlossen, die es jedem, der sich mit ihm beschäftigt, erlaubt, langsam in die Wahrnehmung der höchsten Welt einzutreten, obwohl dieser noch nicht das versteht, was dort geschrieben steht.